Kein Engel so rein
dienstlich ständig mit Polaroidaufnahmen zu tun. Deshalb wusste er, dass die Fotos auf dem Schreibtisch aufgrund ihres Zustands deutlich älter als zehn Jahre alt sein mussten und dass einige von ihnen älter waren als andere. Insgesamt waren es vierzehn Fotos. Der gemeinsame Nenner auf allen war ein nacktes Mädchen. Wegen der körperlichen Veränderungen des Mädchens und der unterschiedlichen Länge seiner Haare nahm Bosch an, dass die Fotos über einen Zeitraum von fünf Jahren hinweg aufgenommen worden waren. Auf einigen der Fotos lächelte das Mädchen unschuldig. Auf anderen war die Traurigkeit und manchmal sogar die Wut in ihren Augen unübersehbar. Bosch war vom ersten Moment an klar gewesen, dass das Mädchen Sheila Delacroix war.
Edgar ließ sich schwer auf seinen Stuhl plumpsen. Bosch hätte nicht sagen können, ob sein Partner wegen der Fotos so aufgebracht war oder weil er über den Stand der Ermittlungen nicht auf dem Laufenden gehalten worden war.
»Gestern war es noch ein Kinderspiel«, sagte Portugal. »Heute ist es ein Riesenschlamassel. Ich gehe mal davon aus, Sie werden zu diesen Fotos auch gleich eine Theorie mitliefern, Detective Bosch?«
Bosch nickte.
»Man fängt mit einer Familie an«, sagte er.
Er beugte sich beim Sprechen vor und sammelte die Fotos ein, richtete sie ordentlich aus und steckte sie in den Umschlag zurück. Er wollte sie nicht so offen herumliegen lassen. Er hielt den Umschlag in der Hand.
»Aus irgendeinem Grund ist die Mutter schwach«, fuhr er fort. »Zu jung, um zu heiraten, zu jung, um Kinder zu kriegen. Der Junge, den sie hat, ist sehr schwierig. Sie sieht, worauf ihr Leben zusteuert, und sie beschließt, dass sie dort nicht hin will. Sie macht sich aus dem Staub, und damit bleibt alles an Sheila hängen … den Jungen zu bändigen und sich den Vater vom Leib zu halten.«
Bosch blickte von Portugal zu Edgar, um zu sehen, wie seine Geschichte ankam. Beide Männer schienen von ihr gefesselt. Bosch hielt den Umschlag mit den Fotos hoch.
»Augenscheinlich ein höllisches Leben. Und was konnte sie schon groß tun? Sie konnte ihrer Mutter, ihrem Vater, ihrem Bruder die Schuld geben. Aber an wem konnte sie sich abreagieren? Ihre Mutter war nicht mehr da. Ihr Vater war groß und übermächtig. Er saß in jeder Hinsicht am längeren Hebel. Damit blieb nur … Arthur.«
Er bemerkte, dass Edgar kaum merklich den Kopf schüttelte.
»Was willst du damit sagen? Dass sie ihn umgebracht hat? Das ist doch vollkommen hirnrissig. Sie war es, die uns angerufen und damit die Identifizierung erst möglich gemacht hat.«
»Ich weiß. Aber ihr Vater weiß nicht, dass sie uns angerufen hat.«
Edgar runzelte die Stirn. Portugal beugte sich vor und fing wieder mit seiner Handübung an.
»Ich glaube nicht, dass ich Ihnen folgen kann, Detective«, sagte er. »Inwiefern soll das etwas damit zu tun haben, ob er den Sohn umgebracht hat oder nicht?«
Bosch beugte sich ebenfalls vor und wurde lebhafter. Wieder hielt er den Umschlag hoch, als wäre er die Antwort auf alles.
»Begreifen Sie denn nicht? Die Knochen. Die ganzen Verletzungen. Wir haben uns getäuscht. Es war nicht der Vater, der sie ihm zugefügt hat. Es war sie. Sheila. Sie wurde missbraucht, und dann ging sie her und gab alles, was sie erdulden musste, sofort weiter. An Arthur.«
Portugal ließ die Hände auf den Schreibtisch sinken und schüttelte den Kopf.
»Damit sagen Sie also doch, dass sie den Jungen umgebracht und zwanzig Jahre später angerufen und Ihnen den entscheidenden Hinweis für die Ermittlungen gegeben hat. Erzählen Sie mir jetzt bloß nicht, sie leidet, was den Mord angeht, an Amnesie.«
Bosch ignorierte den Sarkasmus.
»Nein, ich sage, sie hat ihn nicht umgebracht. Aber die Misshandlungen, die sie ihrem Bruder zugefügt hatte, weckten in ihrem Vater den Verdacht, sie könnte es getan haben. Der Vater dachte seit Arthurs Verschwinden schon die ganze Zeit, sie hätte es getan. Und er wusste, warum.«
Wieder hielt Bosch den Umschlag mit den Fotos hoch.
»Und so hatte er die ganze Zeit an der Last des Wissens zu tragen, dass sein Verhalten Sheila gegenüber dazu geführt hatte. Dann tauchen die Knochen auf, er liest es in der Zeitung und macht sich seinen Reim darauf. Wir kreuzen bei ihm auf, und bevor wir überhaupt richtig zur Tür rein sind, fängt er schon an, alles zu gestehen.«
Portugal breitete die Hände aus.
»Warum?«
Darüber zerbrach sich Bosch den Kopf, seit er die Fotos entdeckt
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