Kein Engel so rein
Schultern.
»Weil wir gerade die Straßen und Häuserblöcke von etwas abstecken, das für uns eine Stadt werden wird«, sagte sie und fuhr dabei mit den Fingern über ein paar Linien des Rasters. »Zumindest wenn wir hier arbeiten, wird es so für uns sein. Dann ist das unsere kleine Stadt.«
Bosch nickte.
»In jedem Mord ist die Geschichte einer Stadt«, sagte er.
Kohl sah zu ihm hoch.
»Wer hat das gesagt?«
»Keine Ahnung. Irgendjemand jedenfalls.«
Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Corazon, die über den an der Oberfläche liegenden kleinen Knochen kauerte und sie betrachtete, während das Objektiv der Videokamera sie betrachtete. Er überlegte, was er darüber sagen könnte, als der Signalton seines Funkgeräts ertönte. Er nahm es vom Gürtel.
»Hier Bosch.«
»Edgar. Komm mal hier rüber, Harry. Wir haben schon was.«
»Okay.«
Edgar stand etwa vierzig Meter von den Akazien entfernt an einer fast ebenen Stelle im Gebüsch. Ein halbes Dutzend Kadetten und Brasher hatten einen Kreis gebildet und sahen auf etwas in dem kniehohen Gebüsch hinab. Der Polizeihubschrauber begann immer enger über ihnen zu kreisen.
Bosch erreichte die Gruppe und sah auf den Boden. Es war der zum Teil in der Erde steckende Schädel eines Kindes, der aus leeren Augenhöhlen zu ihm hochstarrte.
»Niemand hat ihn angefasst«, sagte Edgar. »Gefunden hat ihn Brasher.«
Bosch sah sie an, und das Schmunzeln, das sonst immer um ihre Augen und ihren Mund zu spielen schien, war verflogen. Er sah wieder den Schädel an und zog das Funkgerät vom Gürtel.
»Dr. Corazon?«
Es dauerte ziemlich lang, bis ihre Stimme zurückkam.
»Ja, ich bin hier. Was ist?«
»Wir müssen den Fundort ausweiten.«
6
Mit Bosch als befehligendem General der kleinen Armee, die sich an dem erweiterten Tatort zu schaffen machte, gingen die Arbeiten gut voran. Die Knochen kamen leicht aus dem Boden und dem Unterholz auf dem Hügel, als hätten sie schon sehr lange ungeduldig gewartet. Bis Mittag hatte Kathy Kohls Team drei Quadrate des Rasters freigelegt, und Dutzende von Knochen kamen aus der dunklen Erde. Wie ihre archäologischen Pendants, welche die Hinterlassenschaften alter Kulturen zutage fördern, verwendeten die Mitglieder das Grabungsteam kleine Gerätschaften und Pinsel, um die Knochen behutsam ans Licht zu bringen. Außerdem benutzten sie Metalldetektoren und Dampfsonden. Das Verfahren war zwar zeitraubend, aber es ging schneller, als Bosch gehofft hatte.
Ausgelöst hatte diese Temposteigerung die Entdeckung des Schädels, die der Operation insgesamt etwas Dringlicheres verlieh. Zunächst wurde der Schädel aus dem Boden herausgelöst, und als ihn Teresa Corazon dann vor laufender Kamera untersuchte, wurden Frakturlinien und operative Vernarbungen sichtbar. Spuren eines chirurgischen Eingriffs bestätigten, dass die Knochen noch nicht allzu alt sein konnten. Für sich genommen, waren die Frakturen noch kein eindeutiger Hinweis auf ein Gewaltverbrechen, aber betrachtete man sie unter dem Gesichtspunkt, dass die Leiche vergraben worden war, erzählten sie offensichtlich die Geschichte eines Mordes.
Als die Teams auf dem Hügel um zwei Uhr Mittagspause machten, war bereits die Hälfte des Skeletts aus dem Raster geborgen worden. Ein paar weitere Knochen waren nicht weit entfernt von den Kadetten im Gebüsch gefunden worden. Außerdem hatte Kohls Team Reste zersetzter Kleidungsstücke und eines Leinwandrucksacks zutage gefördert, der, seiner Größe nach zu schließen, einem Kind gehört hatte.
Die Knochen wurden in quadratischen Holzkisten mit Seilgriffen den Hügel hinuntergebracht. Bis zur Mittagspause hatte ein forensischer Anthropologe im gerichtsmedizinischen Institut mit der Untersuchung dreier Kisten voller Knochen begonnen. Die Kleider, von denen die meisten bis zur Unkenntlichkeit zersetzt waren, und der Rucksack, der ungeöffnet geblieben war, wurden in das Labor der Scientific Investigation Division, der Spurensicherung des LAPD, gebracht.
Eine Sondierung des Grabungsrasters mit Metalldetektoren förderte eine einzige Münze zutage – einen 1975 geprägten Vierteldollar, der in ungefähr derselben Tiefe wie die Knochen etwa fünf Zentimeter neben dem linken Beckenknochen gefunden wurde. Die Vermutung war, dass sich der Quarter in der linken vorderen Tasche der Hose befunden hatte, die wie das Körpergewebe längst verwest war. Für Bosch war die Münze einer der Schlüsselhinweise auf den Todeszeitpunkt: Wenn zutraf, dass
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