Kein Engel so rein
im Wagen sitzen geblieben war, sagte Bosch, dass zwischen den beiden dicke Luft herrschte. Da Brasher eine Anfängerin war, war Edgewood, auch wenn er mindestens fünf Jahre jünger war als sie, ihr Ausbilder. Vielleicht lag es nur an der etwas eigenartigen alters- und geschlechtsbedingten Konstellation. Aber vielleicht lag es auch an etwas anderem.
Brasher bemerkte Bosch auf der Bank nicht. Sie hatte fast die Tür erreicht, als er sie ansprach.
»Sie haben ja die Kotze noch gar nicht vom Rücksitz gewischt.«
Sie blickte hinter sich, ging aber weiter. Erst als sie sah, dass er es war, blieb sie stehen und kam dann auf die Bank zu.
»Ich wollte Ihnen was zurückgeben«, sagte Bosch.
Er hielt ihr die Taschenlampe hin. Sie lächelte müde, als sie sie nahm.
»Danke, Harry. Aber Sie hätten doch nicht extra zu warten gebraucht, um …«
»Ich wollte aber.«
Darauf trat einen Moment lang verlegenes Schweigen ein.
»Haben Sie heute Abend an diesem Fall gearbeitet?«, fragte sie.
»Mehr oder weniger. Hab mit dem Schreibkram angefangen. Und davor haben wir den Obduktionsbefund gekriegt. Falls man hier von einer Obduktion sprechen kann.«
»Es ist Ihnen anzusehen, dass es schlimm war.«
Bosch nickte. Er fühlte sich eigenartig. Er saß immer noch, und sie stand immer noch.
»Ihnen ist aber auch anzusehen, dass Sie einen anstrengenden Tag hinter sich haben.«
»Sind sie das denn nicht alle?«
Bevor Bosch etwas erwidern konnte, kamen zwei Polizisten, frisch geduscht und in Zivil, aus der Station und gingen zu ihren Privatautos.
»Nimm’s nicht so tragisch, Julia«, sagte einer von ihnen. »Bis gleich.«
»Okay, Kiko«, rief sie zurück.
Sie drehte sich um und sah wieder auf Bosch hinab. Sie lächelte. »Ein paar Kollegen von der Schicht treffen sich noch drüben im Boardner’s. Hätten Sie Lust mitzukommen?«
»Äh …«
»Nein, nein, schon okay. Ich dachte nur, Sie könnten jetzt vielleicht was zu trinken vertragen oder so.«
»Könnte ich allerdings. Habe ich sogar dringend nötig. Eigentlich war das sogar der Grund, warum ich hier auf Sie gewartet habe. Ich weiß bloß nicht, ob ich so große Lust habe, mit einem ganzen Haufen Leuten in eine Kneipe zu gehen.«
»Was hätten Sie sich denn dann so vorgestellt?«
Bosch sah auf die Uhr. Inzwischen war es halb zwölf.
»Je nach dem, wie lange Sie zum Umziehen brauchen, würden wir es vielleicht noch zum letzten Martini im Musso’s schaffen.«
Plötzlich strahlte sie.
»Den Laden liebe ich. In fünfzehn Minuten?«
Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie auf den Eingang zu.
»Ich warte hier«, rief er ihr nach.
10
Das Musso & Frank’s war eine Institution, die den Bewohnern Hollywoods – berühmten wie berüchtigten – schon seit einem Jahrhundert Martinis servierte. Die Atmosphäre im vorderen Bereich war geprägt von Sitznischen in rotem Leder und gedämpften Unterhaltungen und uralten, in roten Pagenjacken herumschleichenden Kellnern. Im hinteren Teil befand sich die lange Bar, wo man an den meisten Abenden nur einen Stehplatz bekam und die Gäste um die Aufmerksamkeit von Barkeepern buhlten, die die Väter der Kellner hätten sein können. Als Bosch und Brasher die Bar betraten, rutschten gerade zwei Gäste von ihren Barhockern, um zu gehen. Bosch und Brasher stießen sofort in die Lücke und schnappten die Vorzugsplätze zwei in Schwarz gekleideten Filmtypen vor der Nase weg. Ein Barkeeper, der Bosch kannte, kam zu ihnen, und sie bestellten beide Wodka Martinis, leicht schmutzig.
Bosch fühlte sich bereits ganz unbefangen mit ihr. Sie hatten die letzten zwei Tage am Tatort gemeinsam zu Mittag gegessen, und sie war bei den Suchaktionen oben auf dem Hügel nie weit von ihm entfernt gewesen. Sie waren in seinem Auto zum Musso’s gefahren, und es kam ihm vor wie ihr dritter oder vierter gemeinsamer Abend. Sie unterhielten sich über Kollegen und über diejenigen Einzelheiten seines Falls, die Bosch herauszurücken bereit war. Bis der Barkeeper ihre Martinigläser zusammen mit den Sidecar-Karaffen vor sie hinstellte, war Bosch an dem Punkt angelangt, an dem er eine Weile nicht mehr an Knochen und Blut und Baseballschläger denken wollte.
Sie stießen an, und Brasher sagte: »Auf das Leben.«
»Ja«, sagte Bosch. »Dass wir wieder einen Tag überstanden haben.«
»Aber gerade noch.«
Bosch wusste, jetzt war der Zeitpunkt gekommen, über das mit ihr zu sprechen, was sie bedrückte. Wenn sie nicht darüber sprechen wollte, würde er sie nicht
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