Kein Entkommen
lang hatte sich blanke Überraschung auf seiner Miene gespiegelt. Er hatte die Augen aufgerissen, in derselben Sekunde den Blick abgewandt und ein zweites Mal hingesehen. Der Mann hatte alles Mögliche erwartet – aber ganz bestimmt nicht, vor der Leiche von Leanne Kowalski zu stehen.
Woraus sich zwei Schlussfolgerungen ergaben: Harwood hatte Leanne Kowalski nicht umgebracht. Und ebenso wenig seine Frau, wenn er nicht völlig danebenlag.
Wenn Harwood seine Frau umgebracht und irgendwo verscharrt hatte, wäre er niemals derart fassungslos gewesen. Er hätte von vornherein gewusst, dass nicht seine Frau in dem Grab lag. Nein. Duckworth war felsenfest davon überzeugt, dass Harwood ihm nichts vorgespielt hatte. Was auf den Zügen des Reporters aufgeflackert war, konnte man nicht vortäuschen.
Und dann war da noch die Sache mit dem Explorer.
Zeitlich hätte es Harwood vielleicht bewerkstelligen können, Leanne Kowalski zwischen seinem Abstecher zum Lake George und dem Ausflug ins Five Mountains zu töten – aber wie war es ihm gelungen, anschließend noch den Geländewagen nach Albany zu fahren und in den Abgrund stürzen zu lassen? Unmöglich, dachte Duckworth. Mal ganz abgesehen davon, dass er für ein derartiges Vorhaben einen Komplizen mit einem zweiten Wagen benötigt hätte – oder wie war er sonst nach Promise Falls zurückgekommen?
Auch wenn er sich auf ihn eingeschossen hatte: Harwood war nicht der Täter. Vielleicht war tatsächlich etwas dran an seiner Theorie, dass seine Frau eine neue Identität angenommen hatte. Ja, er musste mit diesen Leuten in Rochester sprechen. Vielleicht brachte das ja neue Erkenntnisse.
Manchmal täuschte einen das eigene Bauchgefühl. Nun ja, Natalie Bondurant hatte ihm recht deutlich gesagt, was sie von seinem Bauch hielt.
Im selben Moment klingelte sein Handy.
»Duckworth.«
»Hallo, Barry. Glen hier.«
Glen Dougherty. Der Polizeichef von Promise Falls und Barrys Boss.
»Chief«, sagte er.
»Ist zwar nicht meine Aufgabe, aber ich habe gerade ein paar Laborergebnisse reinbekommen und mich gefragt, ob Sie schon Bescheid wissen.«
»Ich bin gerade unterwegs, Chief.«
»Es geht um diese verschwundene Frau. Jan Harwood. Das ist doch Ihr Fall, oder?«
»Wir arbeiten auf Hochtouren, Chief.«
»Die Haare und das Blut sind so weit analysiert. Sie wissen schon, die Spuren, die Sie im Kofferraum des Ehemanns gefunden haben.«
»Ja.«
»Die DNA stimmt mit den Haaren überein, die Sie im Haus der Verschwundenen sichergestellt haben.«
»Verstehe.«
»Machen Sie den Burschen dingfest«, sagte der Chief. »Wir benötigen keine weiteren Beweise.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Duckworth.
»Was meinen Sie, Barry?«
»Ich stoße dauernd auf neue Unstimmigkeiten«, meinte der Detective.
»Jetzt knöpfen wir uns den Kerl erst mal in aller Ruhe vor. Bringen ihn so richtig ins Schwitzen. Jede Wette, dass er auspackt, sobald wir ihm die Fakten präsentieren.«
»Kann sein, Chief. Aber ich …«
»Hören Sie, Barry, ich will Ihnen nicht sagen, wie Sie Ihren Job zu erledigen haben. Aber wir kriegen hier von allen Seiten enormen Druck zu spüren. Von den Betreibern des Parks, vom Fremdenverkehrsbüro, und inzwischen hat sich sogar der Bürgermeister nach unseren Fortschritten erkundigt. Und obendrein sitzt mir noch dieser Reeves im Nacken. Machen wir’s kurz. Das Five Mountains bringt Geld, ist ein Wirtschaftsfaktor für die gesamte Region. Und jetzt glauben die Leute auf einmal, dort wäre irgendein Verrückter unterwegs, der es auf kleine Kinder abgesehen hat, und bleiben weg – womöglich bloß, weil dieser Harwood uns irgendwelche Märchen erzählt hat. Verstehen Sie, wovon ich rede?«
»Und ob, Chief«, erwiderte Barry Duckworth.
»Also, schaffen Sie den Burschen hierher.«
»Das wird vielleicht nicht so einfach, Chief. Natalie Bondurant hat seinen Fall übernommen.«
»Na und? Sobald sie sieht, was wir in der Hand haben, gibt sie klein bei. Oder sie bietet uns einen Deal an.«
»Verstanden«, sagte der Detective. »Ich …«
Doch der Chief hatte bereits aufgelegt.
Barry Duckworths Bauch meldete sich wieder. Und diesmal war es nicht bloß ein Gefühl.
Sondern Magendrücken.
49
Als wir in die Auffahrt einbogen, lief Mom die Verandastufen hinunter und eilte uns entgegen.
Mit aufgerissenen Augen starrte sie mich an, als ich ausstieg.
»Er ist weg«, stieß sie hervor. »Ich kann ihn nirgends …«
»Beruhige dich, Mom«, sagte ich, während Dad
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