Kein Entkommen
zitterte am ganzen Leib.
Ihre Gedanken kehrten in die Vergangenheit zurück. Zurück zu dem Tag, als sie die Tochter der Richlers vor das Auto gestoßen hatte.
Damit hatte alles angefangen. Wäre der Unfall nicht passiert – und, bei Gott, sie hatte es wahrhaftig nicht absichtlich getan –, hätten ihre Eltern nie wegziehen müssen. Ihr Vater hätte nicht eine Niederlage nach der anderen einstecken müssen und sie vielleicht nicht so unendlich gehasst, und sie wäre nicht auf die Idee gekommen, ihrem Elternhaus mit siebzehn den Rücken zu kehren, weil sie es einfach nicht mehr aushielt.
Nein, sie hatte Jan Richler nichts antun wollen. Sie war einfach nur wütend gewesen. Wütend wegen dem, was Jan zu ihr gesagt hatte.
Constance Tattinger war neidisch auf Jan. Neidisch auf all die tollen Sachen, die sie geschenkt bekam, neidisch, weil ihre Eltern sie so sehr liebten. Gretchen und Horace Richler kauften ihr alles, was sie sich wünschte, Barbiepuppen und hübsche Schuhe, und an ihrem Geburtstag gingen sie mit ihr zu Kentucky Fried Chicken. Sogar eine Kette mit einem Anhänger, der wie ein Muffin aussah, hatte sie bekommen. Es war die schönste Halskette, die Constance je gesehen hatte, und sie hatte vom ersten Moment an gewusst, dass sie sie besitzen musste.
Und eines Tages, als Jan Richler die Kette in der Schule getragen und sie kurz abgenommen hatte, weil ihr Nacken juckte, hatte Constance ihr die Kette aus der Jackentasche gestohlen. Jan hatte geweint und geweint, als sie ihre geliebte Kette nicht wiederfinden konnte, und schließlich geglaubt, dass Constance sie genommen hatte. Zwei Tage später hatte sie Constance beim Spielen im Garten der Richlers zur Rede gestellt, ihr auf den Kopf hin zugesagt, dass sie sie für eine Diebin hielt – worauf Constance, eingeschüchtert und wütend, sie aus dem Weg geschubst hatte.
Direkt vor das Auto von Mr Richler, der gerade aus der Einfahrt setzte.
All die Jahre hatte Constance Tattinger die Kette mit dem kleinen Muffin getragen. Manchmal hatte sie überlegt, ob sie sie wegwerfen sollte, brachte es aber nicht über sich. Nicht, weil ihr die Kette so viel bedeutete. Ganz im Gegenteil. Sie erinnerte sie jeden Tag an die Tat, die sie begangen hatte. Sie symbolisierte nicht nur den Augenblick, in dem Jan Richlers Leben vorbei gewesen war, sondern auch den Moment, als sich Constance Tattingers Leben für immer verändert hatte.
Ihre Eltern hatten sie von der Schule genommen. Waren mit ihr weggezogen. Und Tag für Tag hatte sie den Hass ihres Vaters erdulden müssen.
Bis sie ihren Eltern für immer den Rücken gekehrt hatte. Ja, gelegentlich hatte sie sich gefragt, was aus ihnen geworden war, doch kam sie immer zu dem gleichen Schluss. Es war ihr egal.
Die Halskette stand für den Moment, nach dem nichts mehr wie vorher gewesen war.
Eines Tages hatte Ethan die Kette in ihrem Schmuckkästchen gesehen und sie gefragt, ob er sie haben dürfe – Muffins waren für ihn schlicht das Größte auf der ganzen Welt. Natürlich hatte sie nein gesagt und ihm erklärt, dass solche Halsketten nur Mädchen trugen. Worauf er sie angebettelt hatte, ob sie die Kette nicht tragen könne.
Das war an dem Tag gewesen, als sie nach Chicago gefahren waren. Und sie hatte sie getragen. Einen Tag lang. Für ihren Sohn. Und dann nie wieder.
Während sie durch die Windschutzscheibe nach draußen starrte, schien ihr ganzes Leben an ihr vorüberzuziehen. Sie dachte an Ethan, an David, an all die schönen Tage …
Reiß dich zusammen.
Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Für Selbstmitleid war später immer noch Zeit. Jetzt standen wichtigere Dinge auf der Tagesordnung.
Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass Oscar Fine wusste, unter welcher Identität sie die letzten sechs Jahre verbracht hatte. Entweder hatte Dwayne ausgepackt, oder ihm war ihr Gesicht in den Nachrichten aufgefallen.
Und wenn er über Jan Harwood Bescheid wusste …
Keine Frage. Er würde erst mal nach Promise Falls fahren, um mehr herauszufinden.
Sie warf einen Blick neben sich, suchte nach dem Foto von Ethan, das sie vor zwei Stunden auf den Beifahrersitz gelegt hatte.
Es war nicht mehr da.
Jan steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor. Als sie die Schilder am Highway sah, stellte sie verblüfft fest, dass sie unwillkürlich in Richtung des Ortes gefahren war, in dem sie die letzten sechs Jahre verbracht hatte.
Sie hatte ein richtiges Zuhause gehabt.
Ihr blieb keine Wahl. Sie musste
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