Kein Entkommen
Pappbecher. Bevor er sich hinters Steuer setzte, sah er zu mir herüber, formte mit der Hand eine kleine Pistole und feuerte grinsend eine virtuelle Kugel auf mich ab.
Dann setzte sich der Wagen in Bewegung. Offensichtlich hatten sie nicht vor, mich mit zur Zeitung zurückzunehmen.
5
Zehn Tage nach unserem Abendessen im Gina’s besorgte Jan uns Karten für den Five-Mountains-Vergnügungspark. Die fünf Achterbahnen schienen mir die perfekte Metapher für Jans Gemütslage zu sein. Pausenlos ging es rauf und runter.
Wenigstens riss sie sich gegenüber Ethan zusammen. Falls er mitbekommen hatte, dass es seiner Mutter nicht gutging, war er anscheinend nicht neugierig genug, um nachzuhaken. Aber da er uns normalerweise wegen jeder Kleinigkeit Löcher in den Bauch fragte, ging ich davon aus, dass ihm nichts aufgefallen war. Jan hatte sich letzte Woche ein paar Tage freigenommen, trotzdem hatte ich Ethan weiter zu meinen Eltern gebracht, da ich dachte, dass sie vielleicht ein wenig Zeit für sich selbst brauchen könnte. Andererseits verspürte ich eine unterschwellige Angst, wenn sie allein zu Hause war, auch wenn sie nie Andeutungen gemacht hatte, dass sie an Selbstmord dachte.
Am Tag nach unserem Streit im Gina’s sah ich nachmittags bei unserem Hausarzt, Dr. Andrew Samuels, vorbei. Der neugierigen Sprechstundenhilfe hatte ich am Telefon erklärt, ich hätte eine Halsentzündung.
»Ja, die Grippe geht gerade um«, hatte sie gesagt.
Als ich allein mit Dr. Samuels in seinem Sprechzimmer war, sagte ich: »Es geht um Jan. In letzter Zeit steht sie völlig neben sich. Ich weiß es nicht genau, aber ich vermute, sie hat Depressionen. Erst gestern hat sie gesagt, dass Ethan und ich ohne sie besser dran wären.«
»Das hört sich nicht gut an«, meinte er und stellte mir diverse Fragen. Ob in letzter Zeit etwas vorgefallen sei? War ein naher Angehöriger gestorben? Gab es finanzielle Probleme? Ärger bei der Arbeit? Ein gesundheitliches Problem, das sie mir vielleicht verschwiegen hatte?
Ich hatte nicht die geringste Ahnung.
Schließlich riet mir Dr. Samuels, noch einmal mit Jan zu reden. Er könne keine Diagnose über einen Patienten stellen, ohne ihn gesehen zu haben.
Ich drängte sie, zu ihm zu gehen. Erst reagierte sie abweisend, wütend sogar, doch später entschuldigte sie sich und erzählte mir, sie habe für den kommenden Tag einen Termin bei Dr. Samuels ausgemacht.
Am nächsten Abend fragte ich sie, wie ihr Gespräch mit ihm gelaufen war. Ich konnte ihre Antwort kaum erwarten.
»Gut«, sagte Jan.
»Du hast ihm von deinen Stimmungsschwankungen erzählt?«
Sie nickte.
»Und was hat er gesagt?«
»Die meiste Zeit hat er nur zugehört«, sagte sie. »Im Warteraum saßen noch jede Menge anderer Patienten, aber Dr. Samuels hat mich keine Sekunde gedrängt.«
»Nett von ihm«, sagte ich.
»Na ja, jedenfalls habe ich ihm erzählt, wie ich mich fühle. Hmm, und das war’s auch schon.«
Wohl kaum, dachte ich. »Konnte er dir weiterhelfen? Hat er dir irgendwas verschrieben?«
»Er hat ein oder zwei Medikamente genannt, aber ich habe ihm gesagt, dass ich nichts nehmen will. Ich will nicht von irgendwelchen Psychopharmaka abhängig werden.«
»Wie? Es bleibt also alles beim Alten?«
»Er meinte, den ersten wichtigen Schritt hätte ich schon getan, indem ich zu ihm gekommen sei. Außerdem hat er gesagt, ich solle mich an einen Spezialisten wenden.«
»Einen Psychiater?«
Jan nickte. »Er meinte, er könne mir jemanden empfehlen.«
»Hast du dir den Namen geben lassen?«
Jan warf mir einen scharfen Blick zu. »Nein. Ich bin nicht verrückt.«
»Das hat auch niemand behauptet. Du tust ja gerade so, als gingen nur Irre zum Psychiater.« Um ein Haar wäre mir das Wörtchen ›Seelenklempner‹ herausgerutscht.
»Ich kriege das schon allein geregelt.«
»Jan, du musst dir helfen lassen«, sagte ich. »Du hast doch selbst gesagt, dass dich deine Gedanken herunterziehen«, sagte ich.
»Ja, und?«
»Geht es dir denn wieder besser?«, fragte ich.
»Jeder ist mal mies drauf«, erwiderte sie und verließ das Zimmer.
***
An jenem Tag, an dem Jan die Tickets für den Five-Mountains-Park bestellte, erhielt ich folgende E-Mail bei der Arbeit:
Wir haben neulich miteinander gesprochen. Über die Versuche von Star Spangled Corrections, die Stimmen des Stadtrats zu kaufen. Reeves ist nicht der Einzige, der von ihnen geschmiert wird. Fest steht, dass der Stadtrat das Projekt hundertprozentig abnicken wird,
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