Kein Entkommen
»Schön, dass du wieder auf dem Damm bist.«
»Gestern und vorgestern hast du nicht mehr so niedergeschlagen gewirkt«, hätte ich beinahe gesagt.
Aber ich sagte nichts, aus Angst, sie könne meine Worte in den falschen Hals bekommen. Ich wollte kein großes Aufheben um ihre Depressionen machen. Vielleicht unterstellte sie mir sonst noch, ich würde sie beobachten, aus jeder Mücke einen Elefanten machen. Schließlich war es ja genau so.
Also beschloss ich, einfach so zu tun, als sei alles in bester Ordnung. Als ob sich Jan den Tag nicht freigenommen hätte, weil sie sich überfordert fühlte. Sie machte einfach blau und leistete mir bei einem kleinen Ausflug Gesellschaft.
Ich hatte Notizblock, Kugelschreiber und Digitalrecorder eingesteckt. Nach Möglichkeit wollte ich die Enthüllungen meiner Informantin auf Band haben – okay, man nimmt längst nicht mehr auf Band auf, aber alles andere klingt irgendwie komisch. Dennoch bezweifelte ich, dass sie eine Aufzeichnung ihrer Stimme zulassen würde.
Trotzdem befand sich der Recorder in meiner Jackentasche. Nur für alle Fälle.
»Nicht allzu viel Verkehr«, bemerkte ich.
Jan wandte sich mir zu, was in der Enge des Jetta nicht ganz einfach war, und blickte abwechselnd zwischen mir und der Straße vor uns hin und her.
»Da gibt’s etwas, das du wissen solltest«, sagte sie.
Plötzlich stieg wieder jenes ungute Gefühl in mir auf, das ich auch bei unserem Essen bei Gina’s empfunden hatte. »Was denn?«
»Ich habe etwas … getan«, erwiderte sie.
»Was hast du getan?«
»Eigentlich geht es eher darum, was ich nicht getan habe«, sagte sie, während sie zum Rückfenster hinaus und dann wieder nach vorn sah.
»Jan, jetzt sag schon.«
»Erinnerst du dich, wann wir das letzte Mal aufs Land gefahren sind?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht genau.«
»Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen der Straße, aber ich würde sie jederzeit finden. Auf dem Weg gibt’s ein weißes Haus, und wenn man dort rechts abbiegt, kommt man irgendwann an eine rote Scheune, und so weiter.«
»Du hattest schon immer einen guten Orientierungssinn«, sagte ich. »Da spielt es keine große Rolle, dass du dir Straßennamen nicht merken kannst.«
»Stimmt«, sagte sie. »Jedenfalls ist es eine Landstraße, zwar asphaltiert, aber kaum befahren. Die, über die man auch zum Gartencenter kommt.«
Klar. Die Straße kannte ich.
»Und wenn man weiterfährt, kommt man schließlich an eine Brücke. Die Straße verengt sich ein bisschen, aber auf der Brücke gibt es trotzdem noch einen Mittelstreifen, damit man nicht glaubt, es gäbe keinen Gegenverkehr.«
Mittlerweile war mir klar, welche Stelle sie meinte.
»Dort herrscht eine reißende Strömung. Das Wasser donnert nur so über die Felsen.«
Ich nickte.
Abermals warf sie einen Blick aus dem Rückfenster, ehe sie sich wieder mir zuwandte. »Jedenfalls bin ich neulich dort rausgefahren, habe den Wagen am Straßenrand abgestellt und bin auf die Brücke gegangen.«
Hör auf, Jan.
»Ich habe eine halbe Ewigkeit dort gestanden«, fuhr sie fort, »und mich gefragt, ob man es wohl überleben würde, wenn man dort hinunterspringt. Man fällt gar nicht so tief, aber die Felsen sind ziemlich zerklüftet.« Sie hielt einen Moment inne. »Egal. Jedenfalls habe ich gedacht, dass ich vielleicht lieber die Wasserfälle hinunterspringe, wenn ich mich umbringen will. An der Stelle, wo sich vor ein paar Jahren dieser Student hinuntergestürzt hat. Weißt du noch?«
»Jan«, sagte ich.
»Ich stand bereits auf der Brüstung. Sie ist aus Beton und ziemlich breit. Ich habe bestimmt eine halbe Minute da oben gestanden, aber dann bin ich wieder heruntergeklettert.«
Ich schluckte. Mein Mund war staubtrocken. »Warum?«, fragte ich. »Warum hast du dich entschieden, es doch nicht zu tun?«
Weil sie uns liebt. Weil sie sich nicht vorstellen konnte, Ethan und mich allein zu lassen.
Sie lächelte. »Da kam ein Wagen. Ein Heulaster. Na ja, ich wollte nicht dabei gesehen werden. Und als ich wieder auf der Brücke stand, war der Moment plötzlich vorbei.«
Jan braucht Hilfe. Am besten, ich drehe sofort um und bringe sie zum Arzt. So kann es nicht weitergehen.
»Glück im Unglück.« Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. »Gut, dass der Laster vorbeikam.«
»Ja.« Sie lächelte, als hätte sie mir lediglich von einem kleinen Stimmungstief erzählt, das nicht der Rede wert war.
»Was hat Dr. Samuels dazu gesagt?«, fragte ich.
»Das war erst
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