Kein Entkommen
legte die Hand auf seine Schulter. »Horace, hör auf damit.«
»Das ist die Wahrheit«, sagte er. »Wir können die Dinge ruhig beim Namen nennen.«
Gretchen richtete den Blick auf mich. »Es war furchtbar, einfach furchtbar«, sagte sie. »Aber es war nicht Horaces Schuld.« Sie verzog das Gesicht, kämpfte sichtlich mit den Tränen. »An jenem Tag habe ich meine Tochter und meinen Mann verloren. Danach war er nie wieder derselbe, dreißig Jahre lang nicht. Er ist ein guter Mensch. Sie dürfen nichts Schlechtes von ihm glauben.«
»Was ist passiert?«, fragte ich.
Gretchen öffnete den Mund, doch Horace schnitt ihr das Wort ab. »Lass mich erzählen«, sagte er, als wolle er eine Beichte ablegen. »Ich habe eine Tochter und einen Sohn verloren. Es macht sowieso keinen Unterschied mehr.«
Er holte tief Luft, um sich zu sammeln.
»Es war am 3. September 1981«, sagte er dann. »Gretchen hatte schon Abendessen gemacht, und Jan und eine ihrer Freundinnen, Constance, spielten vorn im Garten.«
»Eigentlich haben sie mehr gestritten«, unterbrach ihn Gretchen. »Ich hatte sie durchs Küchenfenster im Blick. Na ja, Sie wissen bestimmt, wie kleine Mädchen manchmal sind.«
»Ich war mit ein paar Freunden zum Kegeln verabredet«, fuhr Horace fort. »Wie auch immer, ich schlang mein Abendbrot hinunter, weil ich spät dran war. Wir hatten uns um sechs treffen wollen, und als ich auf die Uhr sah, war ich schon zehn Minuten über die Zeit. Ich stopfte mir den letzten Bissen in den Mund, lief zum Wagen und setzte mit quietschenden Reifen rückwärts aus der Einfahrt.«
Ich wartete, während sich ein flaues Gefühl in meiner Magengrube ausbreitete.
»Es war nicht seine Schuld«, sagte Gretchen. »Sie hat Jan … geschubst.«
»Was?«, platzte ich heraus.
»Hätte ich nicht so abrupt zurückgesetzt«, sagte Horace, »wäre nichts passiert. Hör auf, dem anderen Mädchen die Schuld zu geben.«
»Aber genau das ist passiert«, gab Gretchen zurück. »Die Mädchen haben sich gezankt, und Constance hat Jan in die Einfahrt gestoßen – genau in dem Moment, als Horace aufs Gaspedal trat.«
»O Gott«, sagte ich.
»Ich wusste gleich, dass ich etwas gerammt hatte«, sagte Horace. »Ich bin sofort ausgestiegen, aber …«
Er hielt inne und ballte die Hände krampfhaft zu Fäusten, als könne er sich so am Weinen hindern. Und tatsächlich funktionierte es, während Gretchen nicht länger an sich halten konnte. Tränen liefen ihr über die Wangen.
Ich schluckte. Meine Kehle war staubtrocken.
»Das andere Mädchen begann zu schreien«, sagte Gretchen. »Es war ihre Schuld, aber sie war ja noch ganz klein. Kinder können die Folgen ihres Handelns nicht absehen.«
»Sie saß nicht hinter dem Steuer«, sagte Horace. »Sondern ich, daran gibt’s nichts zu rütteln. Ich hätte aufpassen müssen. Und das habe ich eben nicht getan. Ich hatte nur diese beschissene Kegelbahn im Kopf.« Er schüttelte den Kopf. »Aber am schlimmsten war, dass mich niemand zur Rechenschaft gezogen hat. Die Cops meinten, es wäre nicht mein Fehler gewesen, einfach bloß ein grauenhafter Unfall. Ich wünschte, jemand hätte mich dafür bezahlen lassen, aber letzten Endes hätte es wahrscheinlich auch keinen Unterschied gemacht. Was ich getan hatte, war nicht wiedergutzumachen. Und es gab nichts, wie ich meine Tat hätte sühnen können.«
»Horace hat zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen«, erklärte Gretchen tonlos.
Er senkte den Kopf. Als er nicht weitersprach, wusste ich, dass er seiner Geschichte nichts mehr hinzuzufügen hatte.
»Das Leben des Mädchens, das Jan geschubst hatte, war genauso zerstört, aber ich hatte trotzdem kein Mitleid mit ihr. Ihre Familie ist bald darauf weggezogen. Manchmal denke ich, wir hätten dasselbe tun sollen.«
»Sobald ich ins Auto steige, muss ich unweigerlich daran denken, was ich getan habe«, sagte Horace leise. »All die Jahre, und ich habe immer noch den Aufprall im Ohr.«
Das Wohnzimmer der Richlers war der traurigste Ort, an dem ich je gewesen war.
Mir schwirrte der Kopf. Die erschütternde Geschichte der Richlers war mir schwer an die Nieren gegangen. Doch die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, brachten mich schier um den Verstand.
Er hatte von seiner Tochter Jan gesprochen. Der Jan auf der Geburtsurkunde meiner Frau.
Doch seine Tochter war seit Jahrzehnten tot. Wohingegen meine Jan vor vierundzwanzig Stunden noch am Leben gewesen war.
Meine Frau trug den Namen von Horace und Gretchen
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