Kein Entkommen
geklungen, als sei Jan erst vor Stunden etwas zugestoßen; nun aber klang er so, als sei Jan »tot« für ihn, weil er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.
»Mag ja sein, dass Sie so empfinden, Mr Richler«, sagte ich. »Aber wenn Sie Ihre Tochter je auch nur eine Sekunde geliebt haben, müssen Sie mir helfen.«
»Sie haben das falsch verstanden«, fiel mir Gretchen ins Wort. »Sie ist wirklich tot.«
Unwillkürlich formte sich ein Kloß in meiner Kehle. War ich tatsächlich zu spät gekommen? Hatte sich Jan hier, im Haus ihrer Eltern, das Leben genommen? Als finalen Racheakt sozusagen?
»Wovon reden Sie?«, brachte ich hervor.
»Sie war noch ein kleines Mädchen, als sie gestorben ist«, sagte Gretchen. »Sie ist nur sechs Jahre alt geworden. Oh, es war eine furchtbare Geschichte.«
TEIL 3
17
Die Frau öffnete die Augen. Sie blinzelte ein paarmal, um sich an das Dunkel zu gewöhnen.
Sie lag auf einem Bett und blickte an die Decke. Es war heiß und stickig – zwar brummte irgendwo eine Klimaanlage, die aber nicht richtig zu funktionieren schien. Im Schlaf hatte sie die Decke bis zur Taille hinuntergeschoben.
Sie streckte die Hand aus und berührte ihren Bauch. Ihre Haut war ein wenig feucht, aber kühl. Einen Augenblick lang wunderte sie sich, dass sie nackt war. Sie hatte schon lange nicht mehr nackt geschlafen. Klar, als Frischverheiratete machte man das noch so, aber nach einer Weile wollte man beim Schlafen doch lieber etwas anhaben.
Durch die verbogenen Jalousien fiel der grelle Schein der Highway-Beleuchtung ins Zimmer. Sie lauschte dem endlosen Verkehrsstrom. Schwer beladene Trucks, die durch die Nacht donnerten.
Sie versuchte sich zu erinnern, wo genau sie sich befand.
Sie setzte sich auf und stellte die Füße auf den Boden. Der billige Teppichboden kratzte unter ihren Fußsohlen. Die Haare fielen ihr in die Augen, als sie sich vornüberbeugte und den Kopf in die Hände stützte.
Sie hatte bohrende Kopfschmerzen. Sie warf einen Blick zum Nachttisch hinüber, als stünde dort wundersamerweise ein Glas Wasser nebst Aspirin bereit, doch im Zwielicht konnte sie nur ein paar Scheine und Kleingeld erkennen, eine blonde Perücke und eine Digitaluhr, die in roten Ziffern 00:12 Uhr anzeigte.
Was bedeutete, dass sie höchstens eine Stunde geschlafen hatte. Sie war gegen halb elf ins Bett gegangen, hatte sich aber noch lange von einer Seite auf die andere gewälzt, immer wieder an die Zimmerdecke gestarrt. Irgendwann war sie eingenickt, aber von Erholung konnte keine Rede sein.
Sie erhob sich langsam, ging leise zum Fenster und spähte durch die Jalousie. Es gab nicht viel zu sehen. Ein Parkplatz, der zu etwa einem Viertel belegt war. Ein hoch aufragendes Schild mit der Aufschrift »Best Western«, schon von weitem für Reisende sichtbar. In einiger Entfernung weitere Schilder, unter anderem für eine Mobil-Tankstelle und ein McDonald’s.
Die Frau ging zur Tür und überprüfte, ob sie nach wie vor abgeschlossen war.
Dann durchquerte sie leise das Zimmer und öffnete die Tür zum Bad. Sie tastete nach dem Lichtschalter, schloss aber die Tür, bevor sie das Licht anknipste.
Der grelle Schein stach ihr in die Augen. Sie blinzelte ein paarmal, ehe sie einen Blick in den großen Spiegel über dem Waschbecken warf.
»O nein!«, flüsterte sie. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ihre Haare waren strähnig und ihre Lippen rissig.
Auf der Ablage neben dem Waschbecken lag ein kleiner, offener Kulturbeutel, daneben eine Zahnbürste, Make-up und eine Haarbürste. Sie zog den Reißverschluss des Täschchens ganz auf und kramte darin herum.
Dann hatte sie gefunden, was sie suchte: ein Fläschchen Aspirin. Sie schraubte den Verschluss ab und ließ zwei Tabletten in ihre Handfläche fallen. Sie steckte sie sich in den Mund und ließ Wasser in ihre Hand laufen. Schließlich spülte sie mit einem Schluck Wasser nach, ehe sie nach einem Handtuch griff und sich das Kinn abwischte.
Sie warf einen Blick auf den Verband an ihrem linken Handgelenk und zog eine Grimasse. Bestimmt war der Schnitt noch nicht verheilt, aber in ein paar Tagen würde wohl nichts mehr davon zu sehen sein.
Ihr Magen knurrte, laut genug, dass die Wände ein Echo zurückzuwerfen schienen. Vielleicht rührten die Kopfschmerzen daher. Sie hatte Hunger. Kein Wunder, schließlich hatte sie den ganzen Tag so gut wie nichts gegessen. Zu viel Stress. Sie hatte befürchtet, nichts bei sich behalten zu können.
Das McDonald’s hatte
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