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Kein Entkommen

Kein Entkommen

Titel: Kein Entkommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linwood Barclay
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heißen? Und dass sie in Rochester geboren wurde?«
    In den Mienen der beiden spiegelte sich deutlich, dass sie nicht wussten, was sie glauben sollten.
    Verblüffenderweise war es Horace, der schließlich das Wort an mich richtete.
    »Wann ist sie geboren?«, fragte er. Er klang trotzig, als stünde bereits fest, dass ich die Antwort nicht wissen konnte.
    »14. August 1975«, erwiderte ich.
    Es war, als würde von einer Sekunde auf die andere alle Luft aus ihnen weichen. Horace krümmte sich vornüber, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. Er ließ die Tür los und wich einen Schritt zurück.
    Gretchen blickte mich entgeistert an, hielt aber die Stellung.
    »Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich kann es genauso wenig fassen wie Sie.«
    Traurig schüttelte Gretchen den Kopf. »Sie haben ihn ins Herz getroffen.«
    »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll«, brachte ich hervor. Meine Knie waren butterweich, und ich spürte, wie ich am ganzen Körper zitterte. »Meine Frau wird seit gestern vermisst. Sie ist spurlos verschwunden, am helllichten Tag. Und ich habe gedacht, sie wäre vielleicht zu ihren Eltern gefahren. Das ist der Grund, warum ich überhaupt hier bin.«
    »Wie kommt Ihre Frau an die Geburtsurkunde unserer Tochter?«, fragte Gretchen Richler. »Wie ist das möglich?«
    Ich hatte keine Ahnung, aber ich wollte auch nicht an der Haustür weitersprechen. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich hereinkomme?«
    Gretchen wandte sich zu ihrem Mann um, der immer noch mit gesenktem Kopf dastand. »Horace?«, sagte sie.
    Er antwortete nicht, sondern machte nur eine ebenso wegwerfende wie passive Handbewegung, als wäre er zu keiner Entscheidung mehr fähig.
    »Bitte«, sagte sie und öffnete die Tür.
    Sie führte mich ins Wohnzimmer. Das Mobiliar sah aus, als hätten sie es bereits von ihren Eltern geerbt; nur das Sofa schien jünger als zwanzig Jahre alt zu sein. Die wenigen Farbtupfer stammten von diversen, auf Couch und Sesseln verteilten Kissen, die wie Briefmarken auf alten Luftpolsterumschlägen wirkten. Die Wände waren bis unter die Decke mit billigen Landschaftsgemälden vollgepflastert.
    Ich nahm in einem der Sessel Platz. Gretchen ließ sich auf dem Sofa nieder und raffte ihren Morgenmantel zusammen. »Komm, setz dich zu mir, Horace.«
    Ich entdeckte ein paar gerahmte Familienfotos; viele davon zeigten die Richlers mit einem Jungen und einem jungen Mann, bei denen es sich eindeutig um ein und dieselbe Person handelte. Wären die Bilder in chronologischer Reihenfolge arrangiert gewesen, hätte man sehen können, wie er vom Dreijährigen zum jungen Mann Anfang zwanzig herangewachsen war. Eines der Fotos zeigte ihn – als Erwachsenen – in Uniform.
    Gretchen folgte meinem Blick. »Das ist Bradley«, sagte sie.
    Ich nickte. Unter normalen Umständen hätte ich etwas geantwortet – gutaussehender Typ, sehr sympathisch, irgendetwas in der Art, außerdem stimmte es auch. Aber ich war immer noch zu durcheinander, zu geschockt, um Nettigkeiten von mir zu geben.
    Zögernd schlurfte Horace Richler durch das Zimmer und nahm neben seiner Frau auf dem Sofa Platz. Gretchen legte eine Hand auf sein Knie.
    »Er ist tot«, sagte Horace mit rauer Stimme, als er sah, dass mein Blick auf dem jungen Mann in Uniform ruhte.
    »Afghanistan«, erklärte Gretchen. »Eins von diesen Sprengstoffattentaten.«
    »Das tut mir leid«, sagte ich.
    »Er und zwei Kanadier«, sagte sie. »Nur ein paar Kilometer von Kabul. Fast zwei Jahre ist es jetzt her.«
    Eine halbe Minute oder noch länger war nichts zu hören außer dem kaum wahrnehmbaren Ticken einer Uhr.
    »Tja«, brach Gretchen das Schweigen. »Unsere beiden Kinder.«
    Ich zögerte einen Moment. »Ich sehe gar keine Fotos von Ihrer Tochter«, sagte ich dann. Wie hatte das Mädchen ausgesehen? Selbst wenn sie erst sechs Jahre alt gewesen war … falls es sich wider Erwarten doch um meine Jan handelte, war ich sicher, dass ich sie erkennen würde.
    »Wir … wir haben keine aufgehängt«, sagte Gretchen.
    Ich schwieg, wartete auf eine Erklärung.
    »Wir können es nicht ertragen, daran erinnert zu werden«, sagte sie leise. »Selbst nach all den Jahren.«
    Erneut herrschte düstere Stille, bis Horace, der die ganze Zeit über lautlos die Lippen bewegt hatte, mit krächzender Stimme herausplatzte: »Ich habe sie umgebracht.«
    Um ein Haar versagte mir die Stimme. »Was?«
    Er blickte in seinen Schoß, als würde er sich zutiefst schämen. Gretchen

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