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Kein Entkommen

Kein Entkommen

Titel: Kein Entkommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linwood Barclay
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Richlers verstorbener Tochter. Sie besaß ihre Geburtsurkunde.
    Trotzdem war sonnenklar, dass es sich nicht um dieselbe Person handelte.
    Ich war völlig durcheinander, so ratlos, dass mir nicht einmal mehr weitere Fragen einfielen.
    »Mr Harwood?«, fragte Gretchen. »Alles okay mit Ihnen?«
    »Tut mir leid, ich …«
    »Sie sind so blass. Sie sehen völlig übernächtigt aus.«
    »Ich … Ich verstehe das alles nicht.«
    »Tja.« Horace räusperte sich. »Wir verstehen genauso wenig, was Sie von uns wollen.«
    Ich versuchte mich zu konzentrieren. »Bitte zeigen Sie mir ein Bild von Ihrer Tochter.«
    Gretchen warf ihrem Mann einen Blick zu, doch er schien keine Einwände zu haben. Sie stand auf, trat an einen alten Sekretär mit Holzrollladen, öffnete ihn und zog eine Schublade auf.
    Anscheinend sah sie sich das Foto öfter an, da sie es innerhalb von Sekunden in Händen hielt. Ich verstand, warum Horace kein Foto von seiner Tochter an der Wand hängen haben wollte. Wer will sich schon tagaus, tagein ein Bild von jemandem ansehen, dessen Tod er verschuldet hat?
    Es handelte sich um ein Schwarzweißporträt, etwa 8 × 12 Zentimeter groß. Leicht verblichen, und eine der Ecken hatte einen Knick.
    Sie reichte mir das Foto. »Das Bild ist etwa zwei Monate vorher gemacht worden. Bevor sie …«
    Jan Richler war ein hübsches Kind gewesen. Ein engelhaftes Gesicht blickte mich an. Grübchen, strahlende Augen, lockiges blondes Haar.
    Ich betrachtete das Foto eingehend, auf der Suche nach Ähnlichkeiten mit meiner Frau. Vielleicht irgendetwas in ihren Augen oder an der Art, wie sie den Mundwinkel hochzog. Oder der Schwung ihrer Nase.
    Ich versuchte mir das Bild auf einem Tisch inmitten von anderen Kinderfotos vorzustellen, malte mir aus, wie ich das Foto in die Hand nahm und urplötzlich sagte: ›Das ist sie. Das ist das Mädchen, das ich geheiratet habe.‹
    Aber da war nichts.
    Ich reichte Gretchen Richler das Bild zurück. »Danke«, sagte ich leise.
    »Und?«, fragte sie.
    »Es klingt bestimmt lächerlich«, sagte ich, »aber es ist tatsächlich nicht meine Frau.«
    Horace gab eine Art Schnauben von sich.
    »Darf ich Ihnen ein Foto zeigen?«, fragte ich, griff in meine Tasche und kramte eins von den Bildern heraus, die ich per E-Mail auch an Detective Duckworth geschickt hatte.
    Horace nahm es entgegen, warf einen kurzen Blick darauf und gab es an Gretchen weiter.
    Sie nahm das Foto – einer der Schnappschüsse aus Chicago, auf dem sie zusammen mit Ethan zu sehen war – aufmerksam in Augenschein, so wie es einer Frau gebührte, die den Namen ihrer Tochter trug. Sie hielt es erst auf Armlänge und betrachtete es dann mit zusammengekniffenen Augen aus der Nähe, ehe sie es auf den Wohnzimmertisch legte.
    »Fällt Ihnen irgendetwas auf?«, fragte ich.
    »Ich … Ich habe nur gedacht, wie schön Ihre Frau ist«, sagte sie in fast verträumtem Tonfall. »Vielleicht wäre unsere Jan als Erwachsene ja genauso schön geworden.« Sie griff nach dem Bild, um es mir zurückzugeben, hielt aber in der Bewegung inne. »Wenn diese Frau den Namen unserer Tochter benutzt, stammt sie vielleicht hier aus der Gegend. Soll ich mich bei Ihnen melden, falls ich sie irgendwo sehe?«
    Ich hatte noch mehr ausgedruckte Bilder dabei. Und vielleicht tauchte Jan ja tatsächlich hier auf, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, warum. »Das wäre nett«, sagte ich. »Behalten Sie das Foto.«
    Sie nahm das Bild und legte es zusammen mit dem Foto ihrer Tochter in den Sekretär, ehe sie sich wieder zu uns setzte.
    Horace räusperte sich. »Und diese Frau behauptet, wir wären ihre Eltern?«
    »Sie hat Sie nie namentlich erwähnt«, antwortete ich. »Ich bin erst über ihre Geburtsurkunde auf Sie gestoßen.«
    Gretchen wandte sich langsam zu mir. »Aber fanden Sie das nicht seltsam? Dass sie Ihnen nie ihre Eltern vorgestellt hat?«
    »Sie hat immer gesagt, sie hätte den Kontakt zu ihnen abgebrochen. Deshalb bin ich ja hergekommen. Weil ich dachte, sie wolle sich vielleicht wieder mit ihren Eltern versöhnen. Oder mit ihnen abrechnen, was auch immer. Nun ja, in den letzten Wochen war sie sehr niedergeschlagen. Depressiv. Ich habe mich gefragt, ob sie vielleicht … na ja, die Geister ihrer Vergangenheit konfrontieren wollte.«
    »Würden Sie mich eine Minute entschuldigen?«, fragte Gretchen. Ihre Stimme bebte.
    Wir schwiegen, während sie das Zimmer verließ. Nachdem sie die Treppe hinaufgegangen und eine Tür hinter sich geschlossen

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