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Kein Entkommen

Kein Entkommen

Titel: Kein Entkommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linwood Barclay
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gut merken, aber wir haben ein paar Worte gewechselt. Außerdem war sie ziemlich attraktiv, der Typ Frau, der einem gleich auffällt.«
    »Worüber hat sie denn gesprochen?«
    »Hmm … Sie meinte, sie wäre noch nie hier oben gewesen, jedenfalls könne sie sich nicht daran erinnern. Ich habe gefragt, wohin sie unterwegs wären, und sie sagte, sie wüsste es nicht genau.«
    »Wie? Und haben Sie nachgehakt?«
    »Sie meinte, ihr Mann würde mit ihr einen Ausflug in die Wälder machen. Es wäre wohl eine Überraschung oder so, weil er ihr gesagt hatte, sie solle niemandem etwas davon erzählen.«
    Duckworth dachte nach.
    »Was hat sie sonst noch gesagt?«
    »Das war’s schon, glaube ich.«
    »In was für einer Stimmung war sie?«
    »Stimmung?«
    »War sie gut gelaunt? Depressiv? Ängstlich?«
    »Ganz normal, würde ich sagen.«
    »Okay«, meinte Duckworth. »Danke, dass Sie angerufen haben. Gut möglich, dass ich mich noch einmal bei Ihnen melde.«
    »Keine Ursache. Ich wollte bloß helfen.«
    Duckworth legte auf und warf einen Blick auf sein Müsli. »Kann ich ein bisschen Zucker oder Schlagsahne haben?«
    Maureen setzte sich ihm gegenüber. »Zwei Tage schon«, sagte sie leise. Barry war sofort klar, dass sie von ihrem Sohn sprach. Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest.

20
    Am frühen Morgen wachte ich auf der Couch der Richlers auf. Die beiden waren Frühaufsteher und bereits auf den Beinen. Es war kurz nach sechs. Vom Sofa aus sah ich Horace in der Küche. In Morgenmantel und Pantoffeln stand er an der Spüle, ließ Wasser in ein Glas laufen und spülte ein paar Tabletten herunter, ehe er zur Treppe schlurfte.
    Als er verschwunden war, schlug ich die Decke zurück – von Gretchen selbst gehäkelt, wie sie mir verraten hatte. Sie war so groß, als hätte sie zweihundert Jahre daran gearbeitet. Ich hatte zwar in aller Eile eine kleine Reisetasche gepackt, es aber vorgezogen, in meinen Klamotten zu schlafen. Nur meine Jacke und meine Schuhe hatte ich ausgezogen, bevor ich meinen Kopf auf das weiche Daunenkissen gebettet hatte. Gretchen hatte es mir extra noch heruntergebracht.
    »Es tut mir leid, dass wir Ihnen nur die Couch anbieten können«, hatte sie gesagt. »Aber im Zimmer unseres Sohns können Sie nicht schlafen. Wir haben dort nichts verändert, seit er gefallen ist. Und das Gästezimmer ist bis unter die Decke vollgeräumt mit Kartons und Gerümpel. Wir haben so gut wie nie Besuch.« Sie hatte einen Moment überlegt. »Eigentlich überhaupt nie. Ehrlich gesagt, sind Sie unser erster Gast seit dem Tod unserer Tochter.«
    Ich sehnte mich nach einer heißen Dusche, aber ich wollte nicht den Eindruck erwecken, als hätte ich mich bereits häuslich eingerichtet. Ich nahm meine Reisetasche und ging nach oben ins Gästebad, wo ich mir die Zähne putzte, mich rasierte und mein Haar mit ein wenig Wasser wieder halbwegs in Form brachte. Als ich aus dem Badezimmer kam, stieg mir Kaffeeduft in die Nase.
    Gretchen stand, bereits angezogen, in der Küche. »Guten Morgen«, sagte sie.
    »Guten Morgen.«
    »Haben Sie gut geschlafen?«
    »Erstaunlich gut sogar«, antwortete ich. Obwohl ich völlig fertig und außer mir vor Sorge gewesen war, hatte mein Körper schlicht nicht mehr mitgespielt; von einer Sekunde auf die andere war ich weg gewesen. »Und Sie?«
    Sie lächelte, als wolle sie meine Gefühle nicht verletzen. »Nicht so gut. Es war ziemlich aufwühlend, was Sie uns erzählt haben. All diese Erinnerungen, die wieder hochgekommen sind … der Verlust hat uns beide damals mitten ins Herz getroffen, aber Horace hat das Trauma nie überwunden, verstehen Sie?«
    »Das tut mir leid«, sagte ich. »Aber ich wusste ja nichts davon.«
    »Es war nicht nur für uns ein Schock«, sagte sie. »Jans ehemalige Lehrerin, Miss Stephens, war so außer sich, dass sie sich eine Woche lang krankschreiben lassen musste. Die anderen Kinder waren am Boden zerstört. Und das kleine Mädchen, das Jan gestoßen hatte … Wäre es heute geschehen, würde man sie wahrscheinlich zu einem Therapeuten schicken. Wer weiß, vielleicht haben ihre Eltern das ja sogar getan. Wie auch immer, der Schuldirektor hat die anderen Kinder eine kleine Gedenktafel für Jan anfertigen lassen, aber ich habe es einfach nicht über mich gebracht, sie mir anzusehen, und Horace könnte es heute noch nicht. Er wollte kein Aufhebens um Jans Tod. Der halbe Ort war wie versteinert.«
    »Und dann tauche auch noch ich auf«, sagte ich.
    »Allerdings«, sagte sie.

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