Kein Entrinnen
Ich bin nicht Ihr Lebensratgeber !«
Frank Franklin stand mit den Händen in den Taschen vor seinen fünfzehn Studenten. Es war ihre erste gemeinsame Unterrichtsstunde.
»Ich bin in Durrisdeer, damit Sie zum Jahresende Ihren Magister der Philosophie erwerben und Ihr schriftstellerisches Talent einem literarischen Agenten oder einer Zeitungsredaktion anbieten oder gar direkt in eine Karriere als Romanschriftsteller oder Novellist einsteigen können. Mehr nicht. Zählen Sie nicht auf mich, um Ihre Allgemeinbildung, Ihre Interpretation der Welt oder Ihre Ansichten zum Leben an sich zu vervollständigen. Ich bin kein Psychiater und noch weniger Therapeut. Ich weiß wohl, dass man in der Kategorie von Literaturprofessoren, zu der ich gehöre, häufig Persönlichkeiten findet, die sich allmählich für Führer, Vorbilder und spirituelle Autoritäten halten. Ich kannte meinen Vorgänger nicht, aber was mich betrifft, so ist der Typ Professor John Keating aus Der Club der toten Dichter überhaupt nicht meine Kragenweite …«
Die Stunde fand nicht in dem ländlichen Pavillon von Mycroft Doyle statt. Als die Studenten an diesem Morgen eingetroffen waren, hatten sie eine von Franklin an die Tür geheftete Notiz vorgefunden, in der er sie in einen der Räume des Unterrichtstrakts bestellte. Das war schlecht angekommen, und viele hatten sich mit dem Weg Zeit gelassen.
Als Frank sie eintreten sah, bemerkte er die verkniffenen Mienen der Jungen und das eher ermutigende Lächeln der Mädchen. Wie schon bei seiner Ankunft in Chicago gefiel er zuerst den jungen Damen.
Seine Einleitung zu Beginn des Kurses löste keinerlei Reaktion aus.
»Schön.«
Anschließend schilderte er im Einzelnen seine Universitätslaufbahn und die verschiedenen Tätigkeiten, die er während der drei vergangenen Jahre in Chicago ausgeübt hatte.
Nach ihm stellte sich jeder Schüler der Reihe nach vor. Frank erkannte die drei Jungen wieder, denen er am Vortag morgens vor dem Schloss begegnet war. Oscar Stapleton, Jonathan Marlowe und Daniel Liebermann. Die Jungs von der Zeitung von Durrisdeer.
Um Ende dieser freien Stunde sagte er zu ihnen: »Schreiben Sie mir bis morgen einen Text. Einen Originaltext. Zum Beweis dafür möchte ich, dass er ein Ereignis aus der jüngsten Vergangenheit behandelt. Als ich Student war, schob ich meinen neuen Lehrern immer meinen besten Text, wohlgemerkt immer denselben, unter die Nase. Ich möchte nicht, dass mir als Lehrer das Gleiche widerfährt. Zweitausend Worte mindestens, bitte.«
Eine gewisse Überraschung und Unruhe machten sich im Raum breit.
»Der Unterricht ist für heute beendet. Sie haben den Tag über Zeit, um zu schreiben und mir Ihre Arbeit morgen abzugeben. Und bitte überraschen Sie mich!«
Frank kehrte in seine Behausung zurück.
Gestern hatte er nach dem vom Dekan und allen Professoren organisierten Begrüßungsumtrunk zu seiner Überraschung gesehen, wie der Umzugswagen ohne Vorankündigung auftauchte. Den restlichen Nachmittag hatte er damit zugebracht, die einstige Bleibe von Mycroft Doyle neu einzurichten. Ein paar Kollegen, Norris und sogar die Frau des Dekans hatten ihm dabei ihre Hilfe angeboten. So kam es, dass Frank eine zahlreiche Helferschaft dirigierte und dem einen zeigte, wohin die Plattensammlung sollte, und dem anderen, wohin er ein Beistelltischchen stellen sollte, dessen Glasplatte nicht auffindbar war.
Es war eine seltsame Erfahrung für ihn. Geradezu peinlich. Frank beobachtete, wie diese Fremden seine Pakete aufschlitzten, seine persönlichen Dinge weiterreichten, Kommentare abgaben und versuchten, anhand seiner Möbel, Bücher oder Videokassetten seine Persönlichkeit zu durchschauen. Gewiss, das geschah aus Solidarität, aber er war sich nicht sicher, ob es ihm gefiel.
Das einzig Gute daran war die Anwesenheit von Mary Emerson gewesen. Sie war bis zum Abend bei ihm geblieben.
Heute blieben ihm noch Stapel voller Wäsche einzuräumen und die letzten Kartons zu leeren. Einen davon hatte er sich bis ganz zum Schluss aufgehoben. Er hatte den Professoren verboten, daran zu rühren.
Es war sein Karton mit Manuskripten.
Er holte den Stapel Blätter hervor, die mit Notizen für einen zukünftigen Roman bedeckt waren, und legte sie im Arbeitszimmer im ersten Stock auf seinem Arbeitstisch neben der Schreibmaschine ab.
Symbolisch ließ er ein Blatt Papier in die Walze der Maschine gleiten.
»Vielleicht kann ich hier endlich gut schreiben …«
Er lächelte. Zwar konnte er
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