Kein Entrinnen
vor.
Die Schüler saßen mit offenem Mund vor der riesenhaften Gestalt des Autors, seinem ernsten Blick unter dem kahlen Schädel, dem dichten Bart … Seine Person strahlte etwas Einschüchterndes aus. Ben O. Boz glich eher einem Romanhelden als einem Romancier.
»Zu Beginn«, hob er an, »muss ich mich bei einem von Ihnen bedanken. Wer ist David Pullman? Denn durch ihn hat Franklin erfahren, wo ich in Dovington wohne, sodass er mir den Vorschlag unterbreiten konnte, an seinem Essay mitzuwirken. Ihm verdanke ich es, dass ich unter Ihnen weile.«
Schweigen. Franklin wurde blass. Pullman. Das war der Name, den er am Tag ihres ersten Gesprächs erfunden hatte. Um zu begründen, wie er die Adresse entdeckt hatte. Boz hatte es nicht vergessen!
»Denken Sie daran, Franklin, er wird versuchen, Sie zu testen« , hatte ihn Special Agent Melanchthon unzählige Male gewarnt. »Seien Sie auf der Hut!«
Er hatte dieses Detail vollkommen vergessen. David Pullman existierte nicht.
Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens und suchender Blicke seitens der Schüler brachte Frank stammelnd eine Erklärung heraus, in der von einem anderen Internatszögling aus der naturwissenschaftlichen Klasse von Miss Pot die Rede war, der an der heutigen Zusammenkunft nicht teilnehmen konnte.
Es klang unglaubwürdig. Boz musste dessen wohl gewahr werden, doch er ging nicht darauf ein und fuhr mit einer einleitenden Bemerkung fort: ein paar Worte über die Nutzlosigkeit der Erfahrung von anderen, insbesondere beim Schreiben.
»Alle Ratschläge und die Beispiele des einen oder anderen Autors sind oft nur einmal und in einem sehr präzisen Kontext gültig.«
Dann erzählte er von seinen ersten Berufsjahren.
Frank fiel aus allen Wolken. Kein Wort über den Verleger Simon Abelsberg, noch über die Tätigkeit seiner Mutter als Korrektorin, noch über die Jahre, in denen er als Ghostwriter für andere geschrieben hatte, über die Serie von Misserfolgen. Nichts von dem, was das FBI erzählt hatte. Boz erfand sich ein neues Leben.
Immerhin hob er, wie Franklin erwartet hatte, ausführlich hervor, mit welcher Besessenheit er um die Genauigkeit der Erzählung, die Entwicklung seiner Intrigen, die Authentizität seiner Figuren bemüht war. Er erwähnte den berühmten Maler Ingres, dessen »chirurgische Präzision« Baudelaire gerühmt hatte.
»Das bringt es auf den Punkt. Chirurgische Präzision. Ich versuche indes niemanden dazu zu überreden, dass er sich meiner Methode bedient. Es ist die meine, das ist alles. Ich räume durchaus ein, dass sie diskutabel ist.«
Franklin wies mit Textauszügen auf einige Besonderheiten in Boz’ Werk hin. Dann folgten die Fragen der Studenten. Hauptsächlich Fragen, die sich auf Boz’ Bücher bezogen.
»Sie sagen, Sie möchten in allem exakt sein«, begann eine junge Frau namens Laura. »In Ihrem Buch Fälschung und Vorspiegelung köpft ein Irrer die armen Opfer mit einer Sichel und schneidet sie dann mit der Säge in Stücke, um sie verschwinden zu lassen. Sie beschreiben darin auf zwei vollen Seiten die speziellen Abdrücke, die die Sägezähne auf den Knochen hinterlassen. Wie weit treiben Sie Ihren Perfektionismus? Haben Sie wirklich menschliche Knochen zersägt ?«
Gelächter.
»Fast«, antwortete Boz. »Für dieses Buch habe ich Schweine- und Hirschknochen benutzt. Sie haben eine ähnliche Dichte wie menschliche Knochen.«
»Aber wenn Sie mit menschlichen Knochen hätten experimentiere können, hätten Sie es dann getan?«
»Ohne zu zögern.«
Schweigen.
»Weitere Fragen?«
»Funktioniert diese Methode auch, wenn Sie fantastische Elemente in Ihre Erzählungen aufnehmen? In Die Bestimmung der Arten, das 1997 erschienen ist, erwähnen Sie einen Werwolf. Einen vollkommen haarlosen Mann, der ermordet in New York gefunden wird. Während der Autopsie entdeckt man, dass seine Haare unter die Haut nach innen gewachsen sind. Das ist eine Erfindung!«
»Glauben Sie? Weil Sie vorschnelle Schlüsse ziehen. Denken Sie daran, dass ich diesen Roman nach einem Aufenthalt in Paris geschrieben habe.«
»Ach! Und in Frankreich begegnen einem also Werwölfe?«
Die Klasse lachte.
»Etwas in der Art jedenfalls«, sagte Boz.
Er war ernst. Alle verstummten.
»Tatsächlich gibt es im Musée de l’Homme eine geheime Abteilung, die für die Öffentlichkeit absolut tabu ist, in der physiologische Exponate von »anormalen« Menschen aufbewahrt werden. Ich spreche hier von Kindern mit zwei Köpfen, Frauen mit drei
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