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Kein Erbarmen

Kein Erbarmen

Titel: Kein Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerold , Haenel
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Deutschabschreiben, Heinisch flüsterte ihm die richtigen Lösungen in Mathematik zu. Und schließlich lud er ihn sogar zu einer Geburtstagsfeier ein, die Tabori bis heute nicht vergessen hatte. Sie waren nur drei Gäste gewesen, noch ein eher unscheinbarer Klassenkamerad und Heinischs älterer Cousin, der sich mit lateinischen Vokabeln aufspielte und Tabori bei Kakao und Kuchen mit spöttischem Unterton ausfragte, ob er wirklich »deutsch« sei oder nicht vielmehr »ein Zigeuner«, zumindest würde er so aussehen. Eine Bemerkung, die Heinischs Vater – ein Amtsrichter, der mit der Mutter zusammen am Tisch saß und auf ihre Esssitten achtete – mit jovialem Lachen kommentierte, um Tabori gleich darauf aufmunternd die Schulter zu tätscheln: »Mach dir nichts draus, es kann ja keiner was dazu, aus welchem Stall er stammt.«
    Beim Würstchen-Wettessen war Tabori dann schlecht geworden und seine Eltern hatten ihn vor der Zeit abholen müssen. Zu seinem eigenen Geburtstag lud er Heinisch nicht ein, eine Zeit lang tauschten sie noch ihre Perry-Rhodan-Hefte untereinander aus, einmal lieh Heinisch ihm einen Landser-Roman, den ersten und letzten, den Tabori je gelesen hatte.
    Dann fand Tabori neue Freunde und Heinisch wurde immer mehr zum Außenseiter, mit dem kaum noch jemand was zu tun haben wollte. Wenig später war Tabori sitzen geblieben, von Heinisch wusste er nur noch, dass er das Abitur mit Auszeichnung bestanden und direkt im Anschluss ein Jurastudium irgendwo in Süddeutschland begonnen hatte. Tübingen oder Freiburg, vielleicht auch Heidelberg, irgendwo jedenfalls, wo es genug Burschenschaften gab, deren »alte Herren« dem zukünftigen Juristen den Weg ebnen würden. Ein einziges Mal hatten sie sich später noch getroffen, Tabori versuchtesich damals als Sänger in einer eher mittelmäßigen Rockband, bei einem ihrer spärlichen Auftritte hatte in der Pause plötzlich Heinisch vor ihm gestanden und ihm unverändert fettleibig, aber jetzt strotzend vor Selbstbewusstsein ein Mädchen in einem unerhört kurzen Minirock vorgestellt: »Das ist meine Verlobte.« An den Namen des Mädchens konnte sich Tabori nicht mehr erinnern, sehr wohl aber an den zweiten Teil der Vorstellungsrunde: »Und das ist Deggi, mein bester Freund von früher, mein Alter ego sozusagen. Wenn ich nicht zufällig ganz anders geworden wäre, wäre ich geworden wie er!«
    Was immer es dann gewesen war – die spontane Rache für die dreiste Anbiederei oder die bloße Überheblichkeit des vermeintlichen Rockstars, als den Tabori sich damals sah –, jedenfalls hatte der Abend damit geendet, dass Heinisch sturzbetrunken mit dem Kopf auf irgendeiner Tischplatte vor sich hindämmerte, während Tabori mit dem Minirock-Mädchen im Bandbus verschwand und sie zwischen Kabeltrommeln und Mikrofonstativen eine eher ungeschickte Nummer schoben, bei der von vornherein klar war, dass es keine Wiederholung geben würde.
    Als Tabori jetzt vor kurzem gehört hatte, dass der neue Polizeipräsident ein Dr. Stephan Heinisch war, hatte er es nur mit einem Schulterzucken abgetan. Es passte ins Bild, nach dem ein Jurastudium mittlerweile die hinreichende Qualifikation für die verschiedensten Berufe zu sein schien, die nach Taboris Meinung allerdings ganz anderer Voraussetzungen bedurft hätten. Aber als Jurist standen einem offensichtlich alle Türen offen, egal ob es nun um das Amt eines Kulturdezernenten, Oberbürgermeisters, Polizei- oder womöglich sogar Bundespräsidenten ging.
    Auch bei Heinisch gab es einen Holzsteg bis ins Wasser, der auf der anderen Seite quer über die Wiese zur Terrasse hinaufführte. Hinter einem ordentlich aufgeschichteten Stapel mit Brennholz zog sich Tabori die Jeans und die Turnschuhe wieder an, die Socken stopfte er in die Tasche seiner Lederjacke. Dann war er so weit. Einer von Lisas Lieblingssprüchen schoss ihm durch den Kopf: Man trifft sich immer ein zweites Mal! Aber er war ganz ruhig, er hatte den Überraschungseffekt auf seiner Seite, Heinisch war die Maus, die in der Falle saß …
    Die Bohlen unter seinen Füßen waren rutschig von Moos und nächtlicher Feuchtigkeit. Taboris Schuhsohlen gaben bei jedem Schritt ein leise schmatzendes Geräusch von sich, ein Nachtvogel flog lautlos von den Bäumen auf und strich dicht über seinen Kopf hinweg, ein Käuzchen vielleicht, gleich darauf ertönte wie zur Bestätigung der heisere Schrei, der Heinisch zusammenzucken und in die Dunkelheit starren ließ. Noch ein Schritt, dann stand

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