Kein Erbarmen
Und jetzt halt dich fest: Er ist nicht aufgrund der Folterungen gestorben, jedenfalls nicht ursächlich, er hat ganz einfach einen hypoglykämischen Schock gehabt.«
Tabori zog die Augenbrauen zusammen. Er kannte den Begriff, brauchte aber einen Moment, um ihn einzuordnen. Gleichzeitig erinnerte er sich an den vagen Geruch nach Alkohol, den er bei dem Leichnam bemerkt hatte.
»Respekt war zuckerkrank?«
Lepcke nickte.
»Hypoglykämischer Schock«, wiederholte er, »Zuckerschock. Schwere Unterzuckerung«, las er aus seinen Notizen ab, »oft wegen ausgefallener Mahlzeiten oder außergewöhnlich langer und extremer körperlicher Anstrengung. Es kommt zu übermäßiger Insulinzufuhr, in Folge davon dann Herzrasen, Schwindel, Übelkeit mit Erbrechen, möglicherweise auch Heißhunger oder Durst. Traubenzucker kann helfen,wenn der Patient noch rechtzeitig reagieren kann, sonst tritt schnell Bewusstlosigkeit ein, die – wie in unserem Fall – zum Tode führen kann.«
Er blickte auf.
»Wer immer ihn also gefoltert hat, hat seinen Tod nicht unbedingt beabsichtigt.«
»Das ist interessant, hilft uns aber im Moment nicht weiter, oder? Es ändert nichts daran, dass er gefoltert worden ist.«
»Wir sind noch nicht fertig«, sagte Lepcke. Er nickte Ulrike zu. »Du bist dran.«
»Ich hab mal ein bisschen im Netz rumgesucht, ob ich irgendwas über Respekt finde. Heute glaubt ja jeder, dass er sich im Netz ausbreiten muss, und Respekt war da keine Ausnahme. Ich habe ihn bei Facebook gefunden, er verbreitet sich da sehr ausführlich über spezielle Methoden bei der Hundeausbildung, aber wirklich interessant ist eigentlich das hier …« Ulrike hielt Tabori eine kopierte Liste hin und tippte mit dem Finger auf eine lange Reihe von Begriffen und Namen, die in der Rubrik »Gefällt mir« standen. »Hier, die dritte Zeile, gleich am Anfang, siehst du?«
»Beiß nie die Hand, die dich füttert«, las Tabori halblaut vor. »Was ist das, worum geht es da?«
»Eine Facebook-Gruppe, die ihm gefällt. Jeder kann eine solche Gruppe aufmachen und reinstellen. Und wenn du auch bei Facebook bist, kannst du das als ›gefällt mir‹ anklicken …«
»Ich weiß, das kenne ich. Und, hast du …«
»Natürlich.«
Ulrike zeigte Tabori einen weiteren Ausdruck.
»Aber da gibt es nicht viel, keine weiteren Informationen,worum es sich bei dieser Gruppe handelt, nur eine Liste mit den Mitgliedern, aber alles irgendwelche Phantasienamen.«
»Sieht verdammt aus wie ein Geheimbund«, mischte sich Lepcke wieder ein. »Und der Zusammenhang ist da: Ein Hundeausbilder, der eine Gruppe gut findet, die sich ›Beiß nie die Hand, die dich füttert‹ nennt. Ich meine, das Erste, was mir da einfallen will, ist irgendein Club, in dem sich hinter geschlossenen Türen etwas abspielt, was mit Sicherheit nicht sauber ist. Wir müssen rauskriegen, was das für Namen sind, die da stehen, wer sich hinter dem Ganzen verbirgt! Wobei ich dir jetzt schon sagen kann, dass mir die Sache nicht schmeckt. Das riecht doch sehr danach, dass wir hier über irgendwas gestolpert sind, was vielleicht auch erklären kann, warum ich von ganz oben zurückgepfiffen worden bin, womöglich auch, warum der Tod der Anwärterin partout als Selbstmord behandelt werden soll, oder wie siehst du das?«
Tabori hatte die letzten Sätze von Lepcke schon nicht mehr gehört. Ein Name auf der Liste war ihm sofort ins Auge gesprungen. Er versuchte verzweifelt zu erfassen, was das bedeuten konnte. Aber er war sich nicht sicher, ob er mit seiner Vermutung richtig lag.
19
Nachdem Lepcke von einem anderen Kollegen, der ihn dringend sprechen wollte, beiseite gezogen worden war, war Tabori mit Carlos und Ulrike zu deren Bus zurückgegangen.
Ulrike hatte ihm bereitwillig – ohne dass er irgendwelche längeren Erklärungen abgegeben hätte – die Informationen besorgt, um die er gebeten hatte. Carlos hatte nach einem kurzen Blick auf den Monitor nur mit der Schulter gezuckt und gesagt: »Ich hoffe, du weißt, was du da tust.«
Heinischs Wochenendhaus war in Steinhude. Die letzte Straße vor der Seepromenade rechts ab, wo hinter alten Bäumen und hohen Hecken verborgen kaum mehr als handtuchgroße Grundstücke das Ufer säumten, jedes allerdings mit eigenem Bootsanleger und kurzem Stichkanal durch das dichte Schilf hinaus aufs offene Wasser. Die Grundstücke mussten mittlerweile Millionenwert haben, wenn auch die meisten Häuser noch aus den späten Sechziger Jahren stammten, in denen das
Weitere Kostenlose Bücher