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Kein Erbarmen

Kein Erbarmen

Titel: Kein Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerold , Haenel
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einen Moment.
    Die Dämmerung kam schnell, in wenigen Minuten würde die untergehende Sonne über dem See alle Konturen verschwimmen lassen und in ein einheitliches Grau tauchen, aber immer noch genug Licht für ihn lassen, um sich einen Weg durch das Uferschilf zurück zu Heinischs Haus zu suchen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Tabori hoffte nur, dass die beiden Zivilpolizisten ihren Wachposten im BMW nicht verlassen würden, solange Heinisch sie nicht zu Hilfe rief. Und er hatte nicht vor, Heinisch dazu die Chance zu geben.
    Schon nach wenigen Metern musste er feststellen, dass nicht nur die Grundstücke mit Zäunen voneinander getrennt waren, sondern dass diese Zäune auch die Zugänge zum See in streng private Abschnitte unterteilten. Er musste also weiter ins Schilf hinaus und sich mit der Jeans über der Schulter und den an den zusammengeknoteten Schnürsenkeln um den Nacken gehängten Turnschuhen durch den Schlick tasten,der unangenehm zwischen seinen Zehen hochquoll. Als das Wasser tiefer wurde und ihm bis fast an die Unterhose reichte, fluchte er halblaut vor sich hin, dann versperrte ihm ein hölzerner Badesteg den Weg, er konnte sich gerade noch in den Schatten ducken, als er das Pärchen auf dem Steg ausmachte. Zum Glück waren sie zu beschäftigt mit sich selbst, um mitzubekommen, wie er wenig später weiter am Ufer über die Holzbohlen kletterte und wieder im Schilf verschwand. Hätte nur noch gefehlt, dass sie mich für einen Spanner halten, der hier in Unterhosen und in eindeutiger Absicht um die Grundstücke schleicht, dachte Tabori und sah für einen Moment das Bild vor sich, wie ihn das beim Sexspiel gestörte Pärchen nackt durch die Nacht jagte und aufgebrachte Wochenendler von den anderen Häusern ihnen zu Hilfe kamen.
    Hier und da saßen Leute auf ihren Terrassen, der Rauch der Grillfeuer war stellenweise so dicht, dass sogar die lästigen Mücken die Flucht ergriffen hatten. Auf einem Grundstück übte sich eine Gruppe von Jugendlichen im kollektiven Betrinken, ganz so, wie sie es von ihren Eltern an unzähligen und aller Wahrscheinlichkeit nach fürchterlichen Wochenenden hier draußen gelernt hatten. Ein Mädchen hockte unerwartet auf den Knien vor Tabori im Uferschlick und kotzte, Tabori hoffte, dass die anderen noch nicht zu breit waren, um ihren Zustand rechtzeitig zu bemerken.
    Dann kamen zwei oder drei Häuser nacheinander, die lichtlos im tiefen Dunkel der Bäume lagen, erst auf der nächsten Terrasse flackerten wieder Windlichter. Auch ohne die weißen Tür- und Fensterrahmen, die einen scharfen Kontrast zum jetzt fast grau wirkenden Rot der Hütte bildeten, hätte Tabori gewusst, dass er am Ziel war: Heinisch hatte sich kaumverändert, er hatte höchstens noch ein bisschen mehr an Gewicht zugelegt, aber als Tabori ihn da jetzt mit einem Glas in der Hand und der Flasche neben sich am Tisch hocken sah, während das Kerzenlicht sich in seiner Hornbrille spiegelte, waren die rund dreißig Jahre, die sie sich nicht gesehen hatten, wie weggewischt …
    Tabori hatte nie irgendjemandem davon erzählt, dass er den neuen Polizeipräsidenten persönlich kannte. Nicht nur, dass es für ihn jetzt – als Ex-Bullen – ohnehin keine Rolle mehr spielte, aber es war ihm eher peinlich, dass es da so etwas wie eine gemeinsame Vergangenheit gab, auch wenn sie zur Zeit ihrer Freundschaft erst elf oder zwölf gewesen waren. Sie hatten sich kennen gelernt, als sie auf das gleiche Gymnasium gekommen waren und der Klassenlehrer in der ersten Stunde willkürlich die Sitzordnung festgelegt hatte, nach der sie dann die folgenden zwei Jahre als Banknachbarn verbrachten. Stephan Heinisch, Stephan mit »ph«, und aus Heinisch war schnell der Spottname Haifisch geworden, was bei Tabori zu einer Art spontaner Solidarität geführt hatte, da ja auch sein eigener Name genug Anlass für die verschiedensten Verballhornungen gab, ganz zu schweigen von seinem Vornamen. Dass Haifisch allerdings tatsächlich ein komischer Kerl war, stand auch für Tabori ohne jede Frage fest: Stark übergewichtig, mit bis aufs Blut abgekauten Fingernägeln und der Brille, deren Gläser so dick wie Flaschenböden schienen, sowie dem unvermeidlichen Seglerjackett mit dem Wappen eines Yachtclubs auf der Brusttasche verkörperte Heinisch das Bild des typischen Strebers. Das Wort »Arroganz« kannte Tabori zu der Zeit noch nicht. Aber irgendwie hatten sie sich miteinander arrangiert, Tabori ließ Heinisch in Englisch und

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