Kein ganzes Leben lang (German Edition)
ihre Arbeit und ihre Liebschaften konzentriert. Wenig später betrat sie ihre kleine Wohnung. Sie kickte ihre Schuhe in die Ecke und ging barfuß in die Küche. Der Natursteinboden war angenehm kühl unter ihren Füßen. Sie nahm die Flasche Weißwein aus dem mintfarbenen Kühlschrank im Sechzigerjahre-Design. Lucrezia hatte die Wohnung im Vintage-Stil eingerichtet. Der alte Gasherd war schon in der Wohnung gewesen, als sie sie gekauft hatte. Neben dem kleinen Weichholztisch stand eine weiß getünchte Kredenz mit einem Porzellanservice, das sie auf einem Antikmarkt erstanden hatte. Es war etwas stickig, und sie öffnete das Fenster. Der Geruch von gebratenem Knoblauch stieg ihr in die Nase. Das Fenster überblickte den Innenhof des Palazzos. Irgendwo lief ein Radio. Gedankenverloren stieß sie auf dem Weg ins Wohnzimmer gegen die alten Holzstiegen, die zu ihrem Schafzimmer führten.
„Verdammt“, entfuhr es ihr. Sie rieb sich den Kopf. Nachdem sie auch im Wohnzimmer die Fenster geöffnet hatte, setzte sie sich mit dem Glas Wein auf die lila Samtcouch. Sie zündete eine Kerze an und starrte in die Flamme. Irgendjemand würde sich die Finger verbrennen. Nur wer? Ihr lief es eiskalt den Rücken herunter.
Annas Handy zeigte eine neue Nachricht an. Sie nahm die gekühlte Wasserflasche aus dem Kühlschrank und goss sich ein Glas ein. Während sie trank, hörte sie ihre Mailbox ab.
„Anna, ich bin es, Paul. Wir haben lange nichts mehr voneinander gehört. Bist du immer noch die messerscharfe Anwältin, die ich kenne? Dann hab ich vielleicht was für dich. Ruf mich an!“
Sie hörte die Nachricht zweimal ab. Dann setzte sie sich nachdenklich auf die Couch. Seit sie nach Mailand gezogen war, hatte sie von Paul nichts mehr gehört. Im Studium war er ihr bester Freund gewesen. Vor ihrem Umzug nach London hatten sie in ihrer Lieblingsbar in Hamburg zwei Flaschen Rotwein geleert. Als Paul das letzte Glas leer getrunken und auf dem Tresen abgestellt hatte, hatte er sie angesehen und gefragt: „Warum versuchen wir es nicht einfach miteinander?“
Erst war sie verdutzt gewesen. Dann hatte sie ihn statt einer Antwort geküsst.
Sie waren zu ihr nach Hause gegangen, auf ihr Bett gefallen und hatten sich alle Mühe gegeben, wild und leidenschaftlich zu sein. Zwischen zwei Küssen war ihr Blick an dem Fernseher hängen geblieben, den Paul ihr geliehen hatte.
„Du musst den Fernseher mitnehmen“, sagte sie unvermittelt.
Er hatte sie erstaunt angesehen.
„Wie bitte?“
„Du musst den Fernseher mitnehmen“, wiederholte sie. „Ich ziehe morgen nach London. Du musst ihn heute Abend mitnehmen. Am besten jetzt gleich.“ Sie machte sich von ihm los, stand auf und sah auf ihn herab.
Er hatte sie erst entrüstet angesehen, schließlich aber nur „Wird gemacht“ gemurmelt. Als er mit dem schweren Fernseher in ihrem Türrahmen stand, meinte sie Erleichterung in seinen Augen zu sehen.
Das war die Geschichte mit Paul gewesen. Paul war heute Partner in einer Boutiquekanzlei, die sich hauptsächlich auf Wettbewerbsrecht spezialisiert hatte.
Und jetzt hatte er sie angerufen. Es fühlte sich gut an.
Was er wohl wollte? Spontan griff sie zum Handy und wählte seine Nummer.
„Anna, wie schön!“ Seine Stimme löste eine Sehnsucht in ihr aus. Eine Sehnsucht nach alter Vertrautheit.
„Wie geht es dir?“, fragte sie.
„Gut. Bei mir ist alles beim Alten. Außer dass ich Vater werde.“ Er machte eine Pause.
„Paul! Das ist wundervoll. Aber ...“
„Ich habe Maya erst vor sechs Monaten kennengelernt. Ich weiß, es ist Wahnsinn, aber ich platze vor Glück.“
„Ich freue mich für dich.“
„Wie geht es dir? Wir haben schon so lange nichts mehr voneinander gehört. Du hast eine Tochter, nicht wahr?“
Sie zögerte. Schließlich sagte sie nur: „Gut. Laura ist ein kleines Wunder.“
„Mein Gott, wir sind erwachsen geworden. Dein Mann muss verrückt nach ihr sein. Wie hat er die Geburt überlebt? Davor habe ich schon Bammel.“
Anna schluckte. Sie atmete tief ein und aus.
„Er war ergriffen.“ Noch während sie die Worte aussprach, begriff sie, dass es genau diese Emotion war, die sie gerne mit Christiano geteilt hätte. Tränen füllten ihre Augen. Mit einer ruppigen Handbewegung wischte sie sie weg.
„... warum ich eigentlich angerufen habe.“
Anna konzentrierte sich wieder auf das Gespräch.
„Meine Kanzlei vertritt ein Private-Equity-Haus, das in ein italienisches Unternehmen investieren möchte, das
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