Kein Kanadier ist auch keine Lösung
Taschentuch über die Augen wischte.
„ Wie reizend. Danke.“ Sie betrachtete ein paar Indianerkinder, die kaum laufen konnten in ihren aufwändigen bunten Trachten voller Federschmuck. Süß sahen sie aus, die kleinen Krieger.
„ John, wie ist denn nun dein indianischer Name?“
Er zögerte. „Warum möchtest du das wissen? Stellst du dir vor, wie ich im Lendenschurz aussehe?“
Sie drehte die Augen gen Himmel. „Kannst du nicht ein Mal ernst bleiben? Es interessiert mich wirklich.“
Er hielt ihrem Blick eine Weile stand und zuckte dann mit den Achseln.
„ Raven.“
„ Rabe?“ Nicht sehr schmeichelhaft. Ein laut krächzender schwarzer Vogel?
„ Es heißt, wenn du einen Raben siehst, dann liegt Magie in der Luft.“
Das klang nun wieder schön. „Wie romantisch.“
John lächelte sie an, doch sie fand es sicherer, nicht über Romantik zu sprechen, und wich seinem magischen Blick lieber aus. Sie beschlossen zu gehen, denn er wollte ihr noch seinen Lieblingsplatz in der Gegend zeigen, von wo aus man einen atemberaubenden Ausblick haben sollte. Bis zum Auto sprachen sie nicht, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Sandra dachte an die schönen stolzen Indianer und ihre heutigen Probleme, und John, seinem geschmolzenen Blick nach zu urteilen, an hemmungslosen Sex im Freien. Sie lächelte in sich hinein. Der Mann war wie ein offenes Buch für sie, doch sie vermutete nur so weit, wie er sie darin lesen ließ.
„ Hast du Hunger?“
„ Eigentlich nicht“, sagte Sandra.
Alles war so aufregend, und die Zeitverschiebung hatte sie durcheinandergebracht, sodass sie keinen Appetit verspürte.
„ Gut, sonst hätte ich hier gehalten, denn wo wir hinfahren, gibt es weit und breit nichts zu essen.“
Sie ließen das große Zeichen der Fastfood-Kette hinter sich und Sandra genoss den Ausblick aus dem Fenster, die weite Natur, die angenehme Temperatur im klimatisierten Wagen.
Die Häuser waren verschwunden und es ging jetzt schon eine ganze Weile bergauf. Sie schluckte mehrmals, um den Höhenunterschied und den damit verbundenen Druck auf ihren Ohren auszugleichen. Die Straße schlängelte sich in Serpentinen in die Rocky Mountains. Felsige Bergkuppen, in weiter Ferne schneebedeckt, begleiteten sie. Steile Schluchten, gefüllt mit hohen Tannen, dazwischen blauer Himmel, nichts als Natur ohne menschliche Spuren, außer der Straße, auf der sie fuhren. Die Berge standen hier eng zusammen und vermittelten ein vages Gefühl der Gefangenschaft, wirkten erdrückend, aber schon nach der nächsten Kurve weiteten sie sich, gaben Raum und einen atemberaubenden Landschaftsüberblick. Sie konnte nicht fassen wirklich hier zu sein und sogar etwas von British Columbia zu sehen, anstatt wie Rolf im Hotel zu sitzen oder in langweiligen Meetings in Hochhäusern.
„ Gefällt es dir hier?“, wollte John in diesem Moment wissen.
Sie dachte daran, eine Bemerkung zu machen, die ihn hochgehen ließ wie einen Silvesterknaller, doch dafür war sie viel zu glücklich und zufrieden.
„ Es ist herrlich. Eine fantastische Gegend, ein fantastisches Land.“
John erwiderte ihr Lächeln. „Das freut mich“, sagte er leise.
Woran er wohl gerade dachte? Sie hatte kein Recht, ihn danach zu fragen. Und sie wollte es auch gar nicht wissen, falls das Ausziehen ihrer Kleider darin vor kam. Seine Blicke waren hungrig. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus bei dem Gedanken. Hungrig nach ihr. Die meisten ihrer Verflossenen hatten es gut verstanden, ihre Sehnsucht vor ihr zu verbergen, bis sie irgendwann, nach der zigsten Verabredung, mit plumpen Versuchen anfingen, sie in deren Wohnung zu bekommen. Die meisten deutschen Männer zeigten ihre Gefühle nicht so deutlich wie John. Man konnte nur erraten, ob Interesse bestand oder ob sie nächsten Samstag einfach nicht mehr anrufen würden. John stand sein Interesse im Gesicht geschrieben, und anstatt dies aufdringlich zu finden, erhöhte es ihren Blutdruck.
So aufregend dieser Gedanken auch war, sie konnte nicht verhindern, ihre Augen zu schließen, nur kurz, nur einen Moment. Die vorbeiziehenden Bäume verschwammen und wurden zu einem Zerrbild, einer Wand grüner Streifen, die sich bleiern auf ihre Lider legte. Sie brauchte einen Augenblick Ruhe.
„ Sandra?“
Leise sprach er sie an. Wie schön sie war. Vielleicht nicht schön im klassischen Sinne, aber sehr attraktiv. Die gerade Nase, die hohen Wangenknochen, der volle geschwungene Mund, die großen blauen Augen, die
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