Kein Kind ist auch (k)eine Lösung
immer gut.
Sie zog mich ins Mary Sol. Zumindest bildete ich mir das ein. Die Mädels hinterm Tresen hatten gute Laune, verdammt gute Laune, und das hieß: Sie sangen. Ich hob den Arm und grüßte kurz, doch mir war klar: Ich musste hier ganz schnell wieder raus.
»Wie immer?«, fragte die Chefin.
Ich nickte, schleppte mich raus auf die kleine Holzbank vor dem Fenster und starrte auf den Fußgängerweg, zu etwas anderem war ich nicht in der Lage. Füße und Kinderwagenräder durchquerten meinen starren Blick von links nach rechts und rechts nach links.
Es war ein schwarzer Volvo-Kombi, der mich um Punkt 14:35 Uhr aus meinem Halbschlaf riss. Er sah aus wie ein Sarg. Dieser Sarg wurde gerade von Ole eingeparkt, und dessen Anblick war schlimmer als jeder Kopfschmerz dieser Welt. Denn dagegen konnte man immerhin etwas einnehmen, gegen diese schmerzhaften Fakten wohl eher nicht: Auf der Rücksitzbank saßen zwei kleine Mädchen. Also war das gestern Abend nicht nur seine Freundin gewesen, sondern vermutlich seine Frau.
Ich konnte nicht mehr. Mir wurde übel.
Ein schlechter Charakter wäre okay gewesen, damit kannte ich mich aus. Aber eine Frau und zwei Kinder, dagegen war ich machtlos. Allein mit diesem Anblick fertigzuwerden war schon eine schwere Aufgabe, aber es kam noch schlimmer. Sie kamen – alle drei – Richtung Mary Sol.
Ich sprang von der Bank hoch, zerrte Waltraud hinter mir her ins Café und sah mich schnell nach einem freien Platz um, wo man mich nicht sofort durch die Scheibe sah. Glück gehabt, rechts an der Wand, kurz vor dem Gang zu den Toiletten, war noch ein Platz frei. Ich setzte mich, und das war besser so, denn die drei waren mir gefolgt und kamen jetzt auch rein.
Eines der Mädchen war so groß, dass sie ihm bis zur Gürtelschnalle ging, die andere war ein ganzes Stück größer. Ich versuchte erst gar nicht, ihr Alter zu schätzen, darin war ich schon immer schlecht gewesen.
Ole entdeckte mich, winkte, machte die Glastür hinter sich wieder zu und kam an meinen Tisch. Er wirkte etwas verunsichert. Kein Wunder nach unserer seltsamen Begegnung gestern Abend.
»Na, schon wieder fit?«, strahlte er mich an.
»Ne, aber hoffentlich gleich«, ich sah den Galão an, der mir in diesem Moment vor die Nase geschoben wurde. Wahrscheinlich bekam ich gleich Herzrhythmusstörungen, immerhin war das mein vierter. Die Dinger machten satt, aber irgendwie nicht wach.
Ole drehte sich zu den Mädchen um. »Das sind Frederike und Johanna – Jo und Fred. Meine Töchter. Und das ist Charly. Wir arbeiten zusammen.«
Es war kaum hörbar, aber synchron, und galt mir: »Hallo.«
Sechs Prozent aller Deutschen litten unter Herzschmerzen, obwohl sie gesund waren. Ich gehörte ab jetzt dazu.
»Setzt euch doch«, sagte ich und tat mit letzter Kraft locker und cool, als wäre dies eine ganz alltägliche Situation. Er war mein Kollege, sie waren seine Töchter, das war’s. Nicht mehr und nicht weniger.
Immerhin reichte meine Kraft für eine kurze Reflektion, und ich fand, ich war nett. Trotz des akuten Herzleidens. Von den Kopfschmerzen ganz zu schweigen.
»Oh ja, danke. Wir wollten eigentlich nur etwas von diesen kleinen süßen Törtchen …«
»Natas.«
»Ja, genau, ein paar Natas wollten wir holen, aber ein Espresso würde mir vermutlich auch guttun.«
Für einen Moment schaffte ich es tatsächlich, die näheren Umstände und Hintergründe zu vergessen. Für einen Moment fühlte ich mich wie früher, als ich mit meinen Freundinnen »Vater, Mutter, Kind« gespielt hatte. Ich war meist der Vater, weil sonst niemand diese Rolle übernehmen wollte. Und obwohl es zu dieser Zeit schon keinen Vater mehr in meinem Leben gab, den ich hätte nachahmen können, hatte niemand etwas an mir auszusetzen gehabt. Vielleicht auch weil ich es nicht zuließ. Denn ich war ein strenger Vater.
Ole war es nicht. Er versuchte es auf die Kumpeltour. Ob er es nur spielte, konnte ich nicht sagen. Wenn ja, dann spielte er es verdammt gut, und beide Töchter kannten ihren Part in dieser Szene.
Ich musterte Jo und Fred und versuchte Ähnlichkeiten mit dem roten Tanzteufel zu finden. Jo hatte einen blassen Teint, blonde Haare und vereinzelt Sommersprossen, Fred wirkte dagegen fast südländisch mit ihren dunklen Haaren und der leicht braunen Haut. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, so unterschiedlich sahen die beiden aus.
Doch eines hatten sie gemeinsam: Man sah ihnen an, was für hübsche Frauen sie werden würden. Und sie
Weitere Kostenlose Bücher