Kein Kinderspiel
Boden. »Wer zeigt der Kleinen, daß es uns nicht scheißegal ist, ob sie lebt oder stirbt?«
Eine Minute lang war in der Küche nur das Summen des Kühlschranks zu vernehmen.
Dann sagte Angie leise: »Wir, schätze ich.«
Ich sah sie mit erhobenen Augenbrauen an. Sie zuckte mit den Achseln.
Eine seltsame Mischung aus Lachen und Schluchzen entrang sich Beatrices Mund, und sie drückte die Faust dagegen und starrte Angie an, während ihr Tränen in die Augen stiegen.
4
Auf dem Abschnitt der Dorchester Avenue, der durch unser Viertel führt, gibt es mehr irische Kneipen als in jeder anderen Straße außerhalb Dublins. Als ich klein war, nahm mein Vater immer an einer Marathon-Sauftour teil, um Geld für örtliche Wohlfahrtsvereine zu sammeln. Pro Kneipe zwei Bier und ein Schnaps, und weiter ging’s zur nächsten. Sie begannen immer in Fields Corner, dem Stadtteil südlich von uns, und arbeiteten sich die Dorchester Avenue nach Norden hoch. Zweck der Übung war, einen Mann zu finden, der nicht eher umkippte, als die keine zwei Meilen entfernte Grenze zu South Boston erreicht war.
Mein Vater konnte unglaublich viel vertragen, wie auch die meisten anderen Männer, die sich für die Sauftour anmeldeten, doch in all den Jahren schaffte es nicht ein einziger Kerl bis Southie.
Die meisten dieser Kneipen gibt es heute nicht mehr, an ihrer Stelle finden sich vietnamesische Restaurants und Eckläden. Dieser heute als Ho-Chi-Minh-Pfad bekannte, vier Häuserblöcke lange Abschnitt der Straße ist aber viel reizender, als viele meiner Nachbarn glauben. Fährt man früh am Morgen dort entlang, sieht man oft alte Männer, die andere Rentner mit Taichi-Geschwindigkeit über die Bürgersteige führen. Man sieht Menschen in ihrer typischen Tracht, den dunklen Seidenpyjamas, und riesigen Strohhüten. Ich habe gehört, daß Straßengangs, die sogenannten Tongs, hier ihr Unwesen treiben, aber ich habe nie welche gesehen. Statt dessen sehe ich eigentlich nur vietnamesische Jugendliche mit stacheligem, gegelten Haar und Sonnenbrillen von Gargoyle herumstehen, die cool aussehen wollen, die hart wirken wollen, und erkenne mich in ihnen wieder.
Drei der wenigen alten Kneipen, die den jüngsten Strom von Einwanderern überlebt haben, liegen direkt an der Avenue. Es sind gute Kneipen: Die Wirte und Gäste haben eine Laissez-faire-Haltung gegenüber den Vietnamesen eingenommen, und genauso werden sie auch von ihnen behandelt. Keine Kultur scheint besonders interessiert an der anderen zu sein, aber das stört auch niemanden.
Die einzige Kneipe auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad, die abseits der Hauptstraße liegt, findet sich am Ende einer unbefestigten Straße, die einfach nicht weitergeführt wurde, als der Stadt Mitte der Vierziger das Geld ausging. Nie ist auch nur ein einziger Sonnenstrahl in diese Gasse gefallen. Das hangargroße Depot einer Lkw-Spedition wirft von Süden seinen Schatten auf den Asphalt. Ein dichtes Gewirr aus Mietshäusern bildet den nördlichen Abschluß. Am Ende dieser Gasse liegt das Filmore Tap, so staubig und vergessen wie die fehlgeplante Straße, die zu ihm führt.
Zur Zeit der Dorchester-Avenue-Sauftour gingen nicht einmal Männer vom Kaliber meines Vaters - allesamt Schläger und Säufer - ins Filmore. Es wurde von der Landkarte gestrichen, als hätte es nie existiert, und solange ich lebe, habe ich noch niemanden kennengelernt, der regelmäßig in dieser Kneipe verkehrte.
Es gibt einen Unterschied zwischen einer rauhen Arbeiterkneipe und einer verkommenen Absteige für den weißen Bodensatz der Gesellschaft. Das Filmore war der Inbegriff einer Absteige. In Arbeiterkneipen gab es zwar immer wieder Schlägereien, doch wurde dabei mit Fäusten gekämpft, gelegentlich wurde jemandem eine Bierflasche über den Schädel gezogen. Im Filmore brachen nach jedem zweiten Bier Schlägereien aus, bei denen meistens Schnappmesser gezogen wurden. Aus irgendeinem Grund zog der Laden Männer an, die vor langer, langer Zeit alles verloren hatten, das ihnen etwas bedeutete. Sie kamen her, um ihrer Drogensucht, ihrem Alkoholismus und ihrem Haß zu frönen. Auch wenn man meinen konnte, daß eh nicht viele Menschen zu dieser Schar gehören wollten, waren Anwärter auf die Clubmitgliedschaft nicht besonders gerne gesehen.
Der Barkeeper warf uns einen kurzen Blick zu, als wir am Donnerstag nachmittag aus dem Sonnenlicht draußen in die Kneipe traten und unsere Augen sich an das fahlgrüne Licht gewöhnten. Vier Kerle hingen an der
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