Kein Lord wie jeder andere (German Edition)
selbst in Zweifel und fragte sich, ob er Sally nicht vielleicht doch umgebracht haben könnte. In seinem verwirrten Zustand konnte er sich hinterher oft an nichts mehr erinnern. Aber an jene Nacht erinnerte er sich noch genau, doch er würde niemandem davon erzählen, nicht einmal Hart.
Fellows befingerte seinen Kragen, sein Gesicht war rot angelaufen. Ian hoffte, dass er ihm wehgetan hatte. Fellows’ Lebensziel bestand darin, die Öffentlichkeit gegen Hart und Ian, ja gegen die MacKenzies insgesamt aufzuwiegeln. Fellows hatte ihn und seinen Bruder derart schikaniert, dass man ihn von dem Fall in High Holborn abgezogen hatte. Außerdem hatte man ihm mit Suspendierung gedroht, sollte er die Finger nicht von dem Fall lassen.
Nun war Fellows zurück. Also musste er neue Beweise haben.
Ian dachte an Lily Martin, die er vor einer Woche mit einer Schere im Herzen gefunden hatte. Wut und Trauer hatte er dabei empfunden, denn er hatte sie beschützen wollen – doch vergebens.
»Verschwinden Sie«, wiederholte er. »Sie sind hier nicht erwünscht.«
»Dieses Haus wurde von Lady Isabella MacKenzie angemietet«, sagte Fellows. »Und mir ist es nicht verboten, mit Mrs Ackerley zu sprechen. Schließlich ist sie keine MacKenzie.«
Ian ließ den Blick über Fellows selbstgefällige Miene gleiten. »Mrs Ackerley steht unter meinem Schutz.«
»Ihrem Schutz?« Fellows’ grinste höhnisch. »So nennt man das also heute.«
»Sparen Sie sich Ihre Andeutungen, Inspektor«, mischte sich Beth ein. »Bitte gehen Sie jetzt. Sie haben gesagt, was Sie sagen wollten, und nun wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie gingen.«
Fellows verneigte sich, doch seine Augen funkelten böse. »Selbstverständlich, Mrs Ackerley. Guten Abend.«
Ian folgte Fellows bis hinaus in die Diele, dort gab er den Lakaien Anweisung, ihn unter keinen Umständen wieder ins Haus zu lassen. Dann wartete er in der Tür, bis Fellows pfeifend im Straßengewimmel verschwunden war.
Als Ian sich umdrehte, stand Beth hinter ihm. Sie roch wie eine Blume, ein schwacher Parfümduft lag auf ihrer Haut. Ihr Gesicht war gerötet, die Wangen feucht, ihr Atem ging schnell.
Verflucht! Ihr Lächeln war verschwunden, und sie hatte die Stirn in Falten gelegt. Ian fiel es schwer, Gesichter zu lesen, doch Beth war ganz eindeutig besorgt und verunsichert. Wenn sie nun Fellows’ Worten Glauben schenkte …
Ian fasste Beth beim Arm und führte sie zurück in den Salon. Er schlug die Tür hinter sich zu, und Beth entfernte sich mit verschränkten Armen von ihm.
»Sie dürfen ihm nicht glauben«, sagte er heiser. »Jahrelang hat er Hart schikaniert. Halten Sie sich von ihm fern.«
»Dafür ist es wohl zu spät.« Beth machte keine Anstalten sich hinzusetzen, sie stand einfach still da, nur ihre Daumen strichen rastlos über die Ellbogen. »Ich befürchte, der gute Inspektor kennt so einige Geheimnisse.«
»Er weiß weniger, als er vorgibt. Meine Familie ist ihm verhasst, und er tut alles, um unserem Ansehen zu schaden.«
»Warum sollte er das tun wollen?«
»Ich weiß es wirklich nicht.«
Unwirsch fuhr sich Ian durchs Haar. Die ihm so verhasste Wut drohte wieder die Oberhand zu gewinnen. Als Kind hatte er dafür oft Prügel bezogen, denn seinen Vater hatten diese Zornesausbrüche zur Weißglut getrieben.
Immer wenn ihm die richtigen Worte fehlten, wenn er nicht verstand, was andere um ihn herum sagten, keimte diese Wut in ihm auf. In jungen Jahren hatte er zur einzigen verfügbaren Waffe gegriffen – er hatte schreiend um sich geschlagen und musste von zwei Lakaien festgehalten werden. Mit dem Schreien hatte er nur aufgehört, wenn Hart kam. Als kleiner Junge hatte Ian den zehn Jahre älteren Bruder verehrt.
Mittlerweile bekam Ian seine Gefühlswallungen selbst in den Griff, dennoch rang er jeden Tag aufs Neue mit der Wut. Auch in der Nacht, in der Sally Tate ermordet wurde, war es ihm so ergangen.
»Ich möchte Sie nicht in diese Sache hineinziehen«, sagte er.
Beth schaute ihn einfach nur an. Ihre Augen waren so blau, ihre Lippen voll und rot. Er wollte sie küssen, bis Fellows’ Worte vergessen und die fragenden Blicke aus ihren Augen verschwunden waren.
Er wollte auf ihr liegen, ihren heißen Körper unter seinem spüren und ihr Stöhnen hören, wenn er in sie eindrang. Im Koitus wollte er mit ihr verschmelzen und alles vergessen, wollte sich hingeben, bis nur noch Leidenschaft blieb. Seit er sie neben Mather in der Oper hatte sitzen sehen, träumte er von ihr als
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