Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
werden verstehen, Ruth«, sagte ich. »Sie werden es endlich verstehen.«
J etzt ist es Nachmittag, und ich schrumpfe dahin wie eine Sandburg, die langsam von den Wellen fortgespült wird. Ruth mustert mich besorgt.
»Du solltest noch ein bisschen schlafen«, sagt sie zärtlich.
»Ich bin nicht müde.«
Ruth weiß, dass ich lüge, gibt aber vor, mir zu glauben, und plaudert mit gekünstelter Unbekümmertheit weiter.
»Ich denke nicht, dass ich einem anderen Mann eine gute Frau gewesen wäre. Manchmal bin ich vielleicht zu störrisch.«
»Das stimmt.« Ich lächle. »Du hast Glück, dass ich dich ertragen habe.«
Sie verdreht die Augen. »Ich meine es ernst, Ira.«
Ich wünschte, ich könnte sie im Arm halten. Bald, denke ich. Bald bin ich bei ihr. Das Sprechen fällt schwer, ich muss mich zwingen, zu reagieren.
»Wenn wir uns nie begegnet wären, hätte ich vermutlich gewusst, dass mein Leben nicht vollständig war. Und ich hätte die ganze Welt nach dir abgesucht, selbst ohne zu wissen, nach wem ich suche.«
Bei diesen Worten leuchten ihre Augen auf, und sie streicht mit der Hand durch meine Haare. Die Berührung fühlt sich tröstlich und warm an.
»Das hast du schon einmal zu mir gesagt. Es hat mir damals schon gefallen.«
Ich schließe die Augen, und beinahe bleiben sie geschlossen. Als ich sie mühsam wieder aufschlage, ist Ruth fast durchsichtig geworden.
»Ich bin müde, Ruth.«
»Es ist noch zu früh. Ich habe deinen Brief noch nicht gelesen. Den neuen, den du mir bringen wolltest. Erinnerst du dich, was du geschrieben hast?«
Ich konzentriere mich. Nur ein winziger Ausschnitt fällt mir ein, mehr nicht.
»Kaum«, murmle ich.
»Erzähl mir, woran du dich erinnerst. Egal was.«
Ich brauche eine Weile, um die Kraft aufzubringen. Ich hole bedächtig Luft, höre das Pfeifen meiner mühsamen Atemzüge. Die Trockenheit in meiner Kehle spüre ich inzwischen nicht mehr, nur noch unendliche Erschöpfung.
»Falls es einen Himmel gibt, werden wir einander wiederfinden, denn ohne dich gibt es keinen Himmel.« Ich stocke, schon dieser eine Satz hat mich völlig ausgelaugt.
Ich glaube, Ruth ist gerührt, kann es aber nicht mehr prüfen, denn sie ist jetzt fast verschwunden. Dennoch spüre ich ihre Traurigkeit, ihr Bedauern, und ich weiß, dass sie dabei ist, zu gehen. Hier und jetzt kann sie ohne mich nicht existieren.
Das weiß offenbar auch sie, und obwohl sie weiter verblasst, rutscht sie näher heran. Erneut fährt sie mir über die Haare und küsst mich auf die Wange. Sie ist sechzehn und zwanzig und dreißig und vierzig, jedes Alter, alle auf einmal. Sie ist so schön, dass mir Tränen in die Augen steigen.
»Was du mir geschrieben hast, ist wundervoll«, flüstert sie. »Ich möchte auch den Rest hören.«
»Eher nicht«, murmle ich, und ich fühle wohl eine ihrer Tränen auf meine Wange tropfen.
»Ich liebe dich, Ira.« Ihr Atem streicht weich über mein Ohr, wie das Raunen eines Engels. »Denk daran, wie viel du mir immer bedeutet hast.«
»Ich denke daran ...«, setze ich an, und als sie mich noch einmal küsst, schließe ich die Augen zum, wie ich annehme, allerletzten Mal.
KAPITEL 2 9
Sophia
Am Samstagabend, während die anderen Studenten wie üblich das Wochenende feierten, arbeitete Sophia in der Bibliothek an einem Referat. Da brummte ihr Handy. Das Benutzen von Telefonen war zwar nur in bestimmten Bereichen erlaubt, aber da niemand sonst in der Nähe war, nahm Sophia es in die Hand und las stirnrunzelnd die SMS .
Ruf mich an, hatte Marcia geschrieben. Es ist dringend .
So knapp der Text auch war, er war ausführlicher als alle anderen Gespräche seit ihrem Streit, und Sophia wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Zurückschreiben und fragen, was los war? Oder, wie Marcia gebeten hatte, anrufen?
Offen gestanden hatte sie keine Lust, mit ihr zu reden. Wie alle anderen aus ihrem Wohnheim war Marcia mit Sicherheit auf einer Party oder in einer Kneipe. Sehr wahrscheinlich war Alkohol im Spiel, weshalb es gut sein konnte, dass sie sich mit Brian stritt, und in so etwas würde sich Sophia auf keinen Fall hineinziehen lassen. Sie wollte sich nicht anhören, was für ein Idiot er war, und fühlte sich auch nicht bereit, zu Marcias Unterstützung zu eilen, besonders nicht, nachdem Marcia ihr in letzter Zeit so geflissentlich aus dem Weg gegangen war.
Jetzt aber sollte Sophia sie anrufen . Weil etwas dringend war.
Dieses Wort konnte man in alle möglichen Richtungen interpretieren,
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