Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
eingelagert und beide Jobs bei einer Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Nairobi angenommen. Dort lebten wir sieben Jahre lang, und ich glaube, Daniel war noch nie so glücklich gewesen. Er bereiste ein Dutzend unterschiedliche Länder und brachte diverse Projekte auf den Weg. Er hatte das Gefühl, dass sein Leben einen echten Sinn besaß und er etwas veränderte.«
Sie blickte wieder aus dem Fenster und stockte für einen Moment. Als sie weitersprach, lag in ihrer Miene eine Mischung aus Bedauern und Staunen. »Er war einfach schlau und neugierig auf alles. Ständig hat er gelesen. Obwohl er noch so jung war, war er als nächster Geschäftsführer der Organisation im Gespräch, und wahrscheinlich wäre er es auch geworden. Aber er starb schon mit dreiunddreißig.« Sie schüttelte den Kopf. »Danach war es in Afrika für mich nicht mehr wie vorher. Also fuhr ich nach Hause.«
Während sie sprach, bemühte ich mich erfolglos, das Bild dieses Mannes mit dem des staubigen Bauernjungen in Einklang zu bringen, der an unserem Esstisch Hausaufgaben gemacht hatte. Doch ich wusste natürlich, dass Ruth stolz auf ihn gewesen wäre.
»Und Sie haben noch einmal geheiratet?«
»Vor zwölf Jahren.« Sie lächelte. »Und ich habe zwei Kinder. Besser gesagt Stiefkinder. Mein Mann ist Orthopäde. Ich wohne in Nashville.«
»Und Sie sind extra den weiten Weg gekommen, um mir ein Bild zu bringen?«
»Meine Eltern sind nach Myrtle Beach gezogen, und wir sind gerade auf dem Weg zu ihnen. Mein Mann wartet in einem Café in der Innenstadt auf mich, deshalb muss ich bald wieder aufbrechen. Und Sie müssen entschuldigen, dass ich einfach so hereingeschneit bin. Aber ich konnte das Bild nicht wegwerfen, also habe ich einfach im Inter net nach Ihrer Frau gesucht und dabei die Todesanzeige gefunden. Und dann fiel mir auf, dass es praktisch kein Umweg wäre, zu Ihnen zu fahren.«
Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete, aber als ich das braune Packpapier entfernt hatte, zog sich meine Kehle zusammen. Es war ein Bild von Ruth – von einem Kind mit unbeholfenen Strichen gemalt. Die Umrisse stimmten nicht ganz, und ihre Gesichtszüge waren unproportioniert, aber das Lächeln und die Augen waren überraschend gut gelungen. In diesem Porträt entdeckte ich die Leidenschaft und die lebhafte Heiterkeit, die sie stets geprägt hatten, und außerdem eine Spur der Rätselhaftig keit, die mich an ihr zeitlebens gefesselt hatte. Ich fuhr mit dem Finger über die Pinselstriche, die Lippen und Wange bildeten.
»Warum ...«, stieß ich beinahe atemlos hervor.
»Die Antwort steht auf der Rückseite«, sagte sie mit sanfter Stimme. Ich kippte das Bild nach vorn und entdeckte das Foto, das ich vor so langer Zeit von Ruth und Daniel aufgenommen hatte. Es war vergilbt und an den Ecken eingerollt. Ich zog es heraus und betrachtete es sehr lange.
»Drehen Sie es um.« Sie berührte meine Hand.
Da stand in ordentlicher Schrift:
Ruth Levinson
Grundschullehrerin
Sie glaubt an mich, und ich kann werden, was ich will, wenn ich groß bin. Ich kann sogar die Welt verändern.
W as danach passierte, worüber oder ob wir uns überhaupt noch unterhielten, weiß ich nicht mehr, denn mein Kopf war plötzlich völlig leer. Woran ich mich allerdings noch erinnere, ist, dass sie sich in der Haustür noch einmal umdrehte.
»Ich weiß nicht, wo er das Bild im Kinderheim aufbewahrt hat, aber Sie sollen wissen, dass es im College genau über seinem Schreibtisch hing. Es war der einzige persönliche Gegenstand in seinem Zimmer. Hinterher kam es mit uns nach Kambodscha und wieder zurück in die Staaten. Nach Afrika nahm er es nicht mit, weil er Angst hatte, es könnte etwas damit passieren. Das hat er aber bereut, sobald wir dort waren. Damals hat er mir erzählt, dass ihm dieses Bild mehr bedeutete als alles andere, was er besaß. Erst als ich das Foto auf der Rückseite fand, habe ich wirklich begriffen, was er damit meinte. Er sprach nicht von dem Bild. Er sprach von Ihrer Frau.«
J etzt im Auto ist Ruth still. Ich weiß, dass sie noch mehr Fragen in Bezug auf Daniel hat, aber damals sind sie mir nicht eingefallen. Das gehört zu den vielen Dingen, die ich bereue, denn ich habe Andrea nie wieder gesehen. Genau wie Daniel im Jahr 1 963 verschwand auch sie spurlos aus meinem Leben.
»Du hast das Porträt über den Kamin gehängt«, sagt sie schließlich. »Und dann hast du die anderen Gemälde aus den Lagerräumen geholt und im ganzen Haus verteilt.«
»Ich
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