Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
hören, ob es ihm gut geht.«
»Leider darf ich Ihnen über seinen Zustand keine Auskunft geben, da Sie keine Verwandten sind.«
»Aber er wird doch wieder gesund, oder?«
Der Arzt blickte von einem zum anderen. »Ich bin froh, dass Sie ihn noch rechtzeitig gefunden und den Krankenwagen gerufen haben, aber Sie sind nicht weiter verantwortlich. Sie kennen ihn ja gar nicht.«
Sophia sah ihn an, sie spürte, dass er noch mehr sagen wollte. Schließlich seufzte er.
»Ich weiß nicht genau, was los ist«, sagte Dr. Dillon, »aber Mr Levinson hat erfahren, dass Sie hier sind, und möchte Sie gern sprechen. Ich muss Sie bitten, den Besuch so kurz wie möglich zu halten.«
I ra wirkte noch kleiner als zuvor im Wagen, als sei er in den vergangenen Stunden geschrumpft. Er lag in dem halb aufgerichteten Krankenhausbett, sein Mund stand offen, die Wangen waren eingefallen, aus dem Arm schlängelten sich Infusionsschläuche. Ein Apparat neben seinem Bett piepste im Rhythmus seines Herzschlags.
»Nicht zu lange«, mahnte der Arzt noch einmal, und Luke nickte. Zögerlich stellte sich Sophia an die Bettkante. Aus dem Augenwinkel sah sie Luke einen Stuhl holen und zu ihr schieben, dann trat er wieder zurück. Sophia setzte sich und beugte sich vor.
»Wir sind hier, Ira.« Sie zeigte ihm den Brief. »Ich habe Ihren Brief für Sie.«
Ira atmete mühsam ein und drehte langsam den Kopf. Seine Augen richteten sich erst auf den Brief, dann auf Sophia. »Ruth ...«
»Ja«, sagte sie. »Ihr Brief an Ruth. Ich lege ihn hier neben Sie, einverstanden?«
Er sah sie verständnislos an. Dann wurde seine Miene weicher, fast traurig. Schwach bewegte er die Hand in ihre Richtung, und instinktiv ergriff Sophia sie.
»Ruth«, wiederholte er mit feuchten Augen. »Meine liebste Ruth.«
»Es tut mir leid, ich bin nicht Ruth. Mein Name ist Sophia. Wir haben Sie vorhin gefunden.«
Er blinzelte, blinzelte noch einmal, sichtlich verwirrt.
»Ruth?«
Das Flehen in seinem Tonfall schnürte Sophia die Kehle zu.
»Nein«, sagte sie leise und bemerkte, dass er angestrengt die Finger nach dem Brief reckte. Sie legte ihn in seine Hand. Er hob ihn hoch, als sei er ungeheuer schwer, und reichte ihn ihr dann zurück. Als er jetzt sprach, klang seine Stimme kräftiger, die Worte waren zum ersten Mal klar verständlich.
»Bist du es wirklich?«
Sophia nahm den Umschlag. »Möchten Sie, dass ich den Brief lese?«
Er sah ihr in die Augen, eine Träne rann über seine hohle Wange. »Bitte, Ruth. Du sollst ihn lesen.«
Er stieß einen langen Atemzug aus, als habe ihn das Sprechen völlig erschöpft. Sophia drehte sich zu Luke um, sie wusste nicht, was sie tun sollte. Er zeigte auf den Brief.
»Ich glaube, du solltest ihn lesen«, sagte Luke zu ihr. »Das wünscht er sich. Lies ihn laut, sodass er dich hören kann.« Sophia starrte auf den Brief in ihren Händen. Es kam ihr falsch vor. Ira war verwirrt. Es war ein persönlicher Brief, er war für diese Ruth bestimmt, nicht für sie.
»Bitte«, sagte Ira, als könne er ihre Gedanken lesen. Seine Stimme klang schon wieder schwächer.
Mit zitternden Händen betrachtete Sophia den Umschlag noch einmal, bevor sie ihn öffnete. Der Brief war einen Bogen lang, in derselben krakeligen Schrift verfasst wie der Name außen. Sie hielt das Papier ins Licht und las langsam vor:
Meine geliebte Ruth,
es ist früh, zu früh, aber wie üblich ist es mir unmöglich, wieder einzuschlafen. Draußen bricht der neue Tag in all seiner Pracht an, und doch kann ich nur an die Vergangenheit denken. In dieser stillen Stunde träume ich von Dir und den Jahren, die wir gemeinsam verbrachten. Ein Jahrestag steht vor der Tür, liebe Ruth, aber nicht der, den wir normalerweise feiern. Es ist aber derjenige, der mein Leben mit Dir beginnen ließ, und ich drehe mich zu Deinem Platz um, weil ich Dich daran erinnern möchte, obwohl mir bewusst ist, dass Du nicht da bist. Gott, mit einer Weisheit, die zu begreifen ich nicht beanspruchen kann, hat Dich vor langer Zeit zu sich gerufen, und die Tränen, die ich jede Nacht vergieße, versiegen nie.
S ophia stockte und sah Ira an. Seine Lippen lagen aufeinander, Tränen sickerten immer noch in die Furchen seines Gesichts. Sie bemühte sich, die Fassung zu bewahren, doch ihre Stimme bebte.
Ich vermisse Dich heute Morgen so, wie ich Dich seit neun Jahren jeden Tag vermisse. Ich bin des Alleinseins müde. Ich bin es müde, ohne Dein Lachen zu leben, ich verzweifle bei dem Gedanken, Dich nie
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