Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
wieder im Arm halten zu dürfen. Aber es würde Dich freuen, dass ich, wenn diese dunklen Gedanken mich zu überwältigen drohen, Deine tadelnde Stimme höre: »Sei nicht so trübselig, Ira. Ich habe keinen trübseligen Mann geheiratet.«
Es gibt so viele Erinnerungen! Wir haben etliche Abenteuer erlebt, nicht wahr? Das sind Deine Worte, nicht meine, denn so hast Du immer unser gemeinsames Leben beschrieben. Das sagtest Du zu mir, wenn Du neben mir im Bett lagst, das sagtest Du zu mir an Rosch ha-Schana, jedes Jahr. Immer entdeckte ich dann ein zufriedenes Funkeln in Deinen Augen, und in diesen Momenten erfüllte Deine Miene noch mehr als Deine Worte mein Herz mit Freude. Mit Dir kam mir unser Leben tatsächlich wie ein fantastisches Abenteuer vor, trotz unseres ganz gewöhnlichen Alltags erfüllte Deine Liebe alles mit geheimen Reichtümern. Warum ich das Glück hatte, das Leben mit Dir teilen zu dürfen, werde ich niemals verstehen.
Ich liebe Dich jetzt, wie ich Dich immer geliebt habe, und es schmerzt mich, dass ich es Dir nicht mehr sagen kann. Dies, mein Liebling, ist mein letzter Brief an Dich.
Du weißt, was die Ärzte mir mitgeteilt haben, Du weißt, dass ich sterben und im August nicht nach Black Mountain fahren werde. Doch ich habe keine Angst. Meine Zeit auf Erden ist bald vorüber, und ich nehme bereitwillig an, was auch kommen mag. Es macht mich nicht traurig. Eher erfüllt es mich mit Frieden, und ich zähle die Tage mit Erleichterung und Dankbarkeit. Denn jeder Tag, der vergeht, bringt mich dem Augenblick näher, an dem ich Dich wiedersehe.
Du bist meine Frau, aber vor allem warst Du immer meine einzige wahre Liebe. Fast drei Viertel eines Jahrhunderts hast Du meinem Dasein Bedeutung geschenkt.
Jetzt ist es Zeit, sich zu verabschieden, und an der Schwelle dieses Übergangs glaube ich zu verstehen, warum Du mir genommen wurdest. Es sollte mir zeigen, wie außergewöhnlich Du warst, und mich durch diesen langen Prozess der Trauer die Bedeutsamkeit der Liebe erneut lehren. Unsere Trennung, das begreife ich nun, war nur vorübergehend. Wenn ich in die Tiefen des Universums blicke, weiß ich, dass ich Dich bald wieder in meinen Armen halten werde. Falls es einen Himmel gibt, werden wir einander wiederfinden, denn ohne Dich gibt es keinen Himmel.
Ich liebe Dich,
Ira
D urch einen Tränenschleier sah Sophia, dass Iras Gesicht einen Ausdruck von unbeschreiblichem Frieden annahm. Sorgfältig steckte sie den Brief zurück in den Umschlag. Sie legte ihn in seine Hand und spürte, dass er ihn ergriff. Inzwischen stand der Arzt in der Tür, und Sophia wusste, dass es Zeit war zu gehen. Sie stand auf, und Luke stellte den Stuhl zurück an die Wand und nahm ihre Hand. Als Ira den Kopf drehte, klappte sein Mund auf. Sein Atem ging schwer. Mit einem letzten Blick auf die schmächtige Gestalt des alten Mannes traten Sophia und Luke in den Flur hinaus und machten sich endlich auf den Weg nach Hause.
KAPITEL 3 1
Luke
Der Februar neigte sich allmählich dem Ende zu, und Sophia bereitete sich auf ihre Abschlussprüfungen vor, wäh rend der Verkauf der Ranch unaufhaltsam näher rückte. Lukes Preisgelder aus den ersten drei Wettkämpfen hatten seiner Mutter und ihm ein oder zwei zusätzliche Monate verschafft, bevor sie zahlungsunfähig wurden. Dennoch sprach Linda nach und nach ihre Nachbarn an, ob jemand Interesse hätte, die Ranch zu übernehmen.
Sophia machte sich Gedanken über ihre Zukunft. Weder das Denver Art Museum noch das Mo MA hatten sich gemeldet, und sie befürchtete, wieder für ihre Eltern arbeiten und in ihr altes Kinderzimmer zurückziehen zu müssen. Auch Luke schlief nicht sonderlich gut. Seine Sorge war, ob seine Mutter in der Gegend bleiben und ob er sie würde unterstützen können, bis sie etwas Vernünftiges gefunden hatte.
Doch meistens wollte keiner von ihnen beiden über die Zukunft reden. Sie versuchten vielmehr, sich auf die Ge genwart zu konzentrieren, und suchten Trost in der Gesellschaft des anderen und der Gewissheit ihrer Gefühle füreinander. Im März fuhr Sophia jeden Freitagnachmittag zur Ranch und blieb bis Sonntag. Oft übernachtete sie auch am Mittwoch bei Luke. Wenn es nicht regnete, verbrachten sie den Großteil der Zeit zu Pferde. Oft half sie ihm bei seinen Arbeiten, gelegentlich leistete sie aber auch seiner Mutter Gesellschaft. Es war genau das Leben, das sich Luke immer ausgemalt hatte – und dann fiel ihm wieder ein, dass es bald vorbei war und er nichts dagegen
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