Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
ging los, um einen zweiten Hut aus dem Haus zu holen. Dann machten sie sich auf den Weg und verfielen unwillkürlich in einen lockeren Gleichschritt. Hund rannte voraus, kam zu ihnen zurückgesaust und flitzte dann wieder in eine neue Richtung davon, ein nicht zu bremsendes Energiebündel. Nach und nach verebbte Sophias Nervosität. Als der Blick auf das große Wohnhaus frei wurde, ließ Sophia den Anblick auf sich wirken: die breite überdachte Veranda und die schwarzen Fensterläden, die hohen Bäume hinter dem Gebäude. Etwas weiter weg stand die alte Scheune, und üppige Weiden schmiegten sich zwischen sanfte grüne Hügel. In der Ferne grasten Rinder am Ufer eines kleinen Sees, und im Dunst liegende Berge mit blauen Gipfeln am Horizont rahmten die Landschaft ein wie eine Postkarte. Auf der anderen Seite der Auffahrt waren Tannenbäume in ordentlichen, geraden Reihen gepflanzt. Eine Brise strich durch die Zweige und erzeugte ein leises, flötendes Geräusch, das wie Musik klang.
»Ich kann nicht fassen, dass du hier aufgewachsen bist«, hauchte sie. Sie zeigte auf das Haus. »Wohnt da deine Mutter?«
»Ich bin sogar in dem Haus geboren.«
»Was? Kein Pferd war schnell genug, um deine Mutter rechtzeitig ins Krankenhaus zu bringen?«
Er lachte, offenbar war er entspannter, seit sie sich von seinem Haus entfernt hatten. »Eine Frau von der Nachbarranch war früher Hebamme. Sie ist eine gute Freundin meiner Mutter, und es war eine Möglichkeit, ein bisschen Geld zu sparen. So ist sie – meine Mutter, meine ich. Mit Ausgaben ist sie ein bisschen knickrig.«
»Selbst bei einer Geburt?«
»Ich glaube nicht, dass sie so eingeschüchtert davon war. Da sie auf einem Bauernhof lebte, hatte sie genug Geburten mitbekommen. Außerdem ist sie selbst auch in dem Haus geboren.«
Sophia spürte den Kies unter den Stiefeln. »Wie lange gehört deiner Familie die Ranch schon?«
»Lange. Den Hauptteil hat mein Urgroßvater in den 1 9 20ern gekauft, und trotz der Weltwirtschaftskrise konnte er sie noch ein bisschen vergrößern. Er war ein ziemlich guter Geschäftsmann. Von ihm hat sie dann mein Großvater übernommen und später meine Mutter. Da war sie zweiundzwanzig.«
Während er sprach, blickte Sophia sich um, erstaunt, wie abgelegen die Ranch trotz der Nähe zum Highway wirkte. Sie gingen am Wohnhaus vorbei. Dahinter standen kleinere verwitterte, umzäunte Holzbauten. Als der Wind sich drehte, schnappte Sophia den Duft von Nadelbäumen und Eichen auf. Alles an der Ranch war erfrischend anders als der Campus. Einschließlich Luke, dachte sie, versuchte aber, sich nicht länger mit dieser Beobachtung aufzuhalten.
»Was ist das da?« Sie zeigte auf die Holzschuppen.
»Das dort vorn ist der Hühnerstall. Und in dem dahinter halten wir die Schweine. Nicht viele, nur drei oder vier auf einmal. Wie gesagt, wir züchten hauptsächlich Rinder.«
»Wie viele habt ihr?«
»Über zweihundert Paar«, sagte er. »Und außerdem neun Bullen.«
Sophia zog die Stirn kraus. »Paar?«
»Eine ausgewachsene Kuh und ihr Kalb.«
»Warum sagst du dann nicht einfach, ihr habt vierhundert?«
»So zählt man sie eben. Die Kälber lassen wir übrigens nicht schlachten. Andere Züchter schon, aber wir sind bekannt für unser Biofleisch von ausgewachsenen Rindern aus Freilandhaltung. Unsere Kunden sind hauptsächlich Nobelrestaurants.«
Sie gingen am Zaun entlang und kamen zu einer uralten Eiche, deren dichte Äste sich wie Spinnenbeine in alle Rich tungen reckten. Als sie darunter herliefen, wurden sie von einem schrillen Chor von Vögeln begrüßt, die ihre Warnrufe erklingen ließen.
Sie näherten sich der Scheune. Sophia betrachtete sie und stellte fest, dass Luke nicht gelogen hatte. Das ganze Gebäude neigte sich leicht zu einer Seite und wurde von modrigen Brettern zusammengehalten. Efeu und Kudzu krochen an den Seiten empor, und ein Teil des Dachs hatte dem Anschein nach überhaupt keine Ziegel mehr.
Er deutete mit dem Kopf darauf. »Was hältst du davon?«
»Hast du schon mal überlegt, sie abzureißen, nur aus Erbarmen?«
»Sie ist stabiler, als sie aussieht. Wir lassen sie absichtlich so, macht mehr her.«
»Möglich«, sagte sie mit skeptischer Miene. »Oder du bist einfach noch nicht dazu gekommen, sie auszubessern.«
»Was meinst du damit? Du hättest sie mal vor der Reparatur sehen sollen.«
Sophia lächelte. Er hielt sich für so witzig. »Sind darin die Pferde untergebracht?«
»Bist du wahnsinnig? Das Ding ist
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