Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
sie habe vorher nichts davon gewusst –, fand im Hauptgebäude gerade eine Ausstellung statt, die sich bis auf den dahinterliegenden Rasen ausdehnte. Obwohl sie öffentlich war, hatten sich nur wenige Besucher eingefunden, und sobald wir durch die Tür getreten waren, blieb Ruth staunend stehen. Ihre Hand um schloss meine fester, ihre Augen saugten den Anblick um sie herum auf. Ich beobachtete ihre Reaktion neugierig, versuchte nachzuvollziehen, was genau sie so fesselte. Für mich als jemanden, der nichts von Kunst verstand, unter schieden sich die dort ausgestellten Werke kaum von denen in den zahllosen anderen Galerien, die wir bisher besucht hatten.
»Aber es gab einen Unterschied!«, ruft Ruth, und ich habe das Gefühl, dass sie sich immer noch fragt, wie ich damals so begriffsstutzig sein konnte. Sie trägt nun dasselbe Kleid mit dem Kragen wie am Tag unseres ersten Ausflugs nach Black Mountain, und in ihrer Stimme schwingt dieselbe Faszination mit, die ich damals bei ihr erlebte.
»Die Werke ... so etwas hatte ich noch nie gesehen. Sie waren anders als die der Surrealisten. Oder sogar als Picasso. Es war alles so neu! Revolutionär. Eine völlig andere Vision. Wenn man sich vorstellt, dass das alles dort stattfand, an einem winzigen College am Ende der Welt! Es war wie ...«
Sie verstummt, findet kein passendes Wort dafür. Nach einer Weile beende ich den Satz für sie.
»Eine Schatztruhe?«
Ihr Kopf schnellt hoch. »Ja«, sagt sie sofort. »Als würde man eine Schatztruhe finden, wo man es am wenigsten erwartet hätte. Aber das hast du damals noch nicht verstanden.«
»Für mich sahen die meisten Bilder aus wie eine Ansammlung wahlloser Farben und verschnörkelter Linien.«
»Es war abstrakter Expressionismus.«
»Ist doch das Gleiche«, sage ich scherzhaft, doch Ruth ist ganz in die Erinnerung an jenen Tag versunken.
»Wir müssen drei Stunden dort herumgelaufen sein, von einem Bild zum anderen.«
»Eher fünf.«
»Und dann wolltest du gehen«, sagt sie vorwurfsvoll.
»Ich hatte Hunger!«
»Wie kann man überhaupt an Essen denken, wenn man so etwas sieht?«, fragt sie. »Wenn man die Gelegenheit hat, sich mit so großartigen Künstlern zu unterhalten?«
»Ich habe kein Wort verstanden. Du und die Künstler, ihr habt eine fremde Sprache gesprochen. Es ging um Intensität und Selbstverleugnung, und gleichzeitig habt ihr mit Begriffen wie Futurismus, Bauhaus und synthetischem Kubismus um euch geworfen. Für einen Mann, der seinen Lebensunterhalt mit Herrenanzügen verdiente, waren das böhmische Dörfer.«
»Selbst noch, nachdem mein Vater es dir erklärt hatte?« Ruth wirkt ratlos.
»Er hat versucht, es mir zu erklären. Das ist ein Unterschied.«
Sie lächelt. »Warum hast du mich dann nicht einfach dort weggezerrt? Warum hast du mich nicht einfach am Arm genommen und zum Auto gebracht?«
Diese Frage hat sie schon oft gestellt und die Antwort nie richtig verstanden.
»Weil ich wusste, dass es wichtig für dich war, zu bleiben«, entgegne ich wie immer.
Das reicht ihr nicht, aber sie fährt dennoch fort: »Erinnerst du dich noch, wen wir an diesem ersten Tag kennengelernt haben?«
»Elaine«, antworte ich sofort. Ich mag ja keine Ahnung von Kunst gehabt haben, aber Menschen und Gesichter konnte ich mir gut einprägen. »Und natürlich auch ihren Mann, wobei wir damals noch nicht wussten, dass er einmal dort unterrichten würde. Und später am Nachmittag sind wir noch Ken und Ray und Robert begegnet. Sie waren Studenten – beziehungsweise Robert sollte es erst noch werden –, und du hast dich lange mit ihnen unterhalten.«
Ihre Miene verrät, dass sie sich freut. »Sie haben mir an dem Tag viel beigebracht. Danach konnte ich besser verstehen, wovon sie beeinflusst waren und in welche Richtung sich die Kunst entwickeln würde.«
»Aber du mochtest sie auch als Menschen.«
»Na sicher. Sie waren faszinierend. Und jeder für sich ein Genie.«
»Weshalb wir immer wieder hinfuhren, jeden Tag, bis die Ausstellung vorbei war.«
»So eine außergewöhnliche Gelegenheit konnte ich mir nicht entgehen lassen. Ich hatte solch ein Glück, ihnen persönlich zu begegnen!«
Im Nachhinein weiß ich, dass sie recht hatte, doch damals war für mich nur wichtig, dass die Flitterwochen für Ruth so unvergesslich und erfüllend wurden, wie ich sie gestalten konnte.
»Sie waren von dir aber auch begeistert«, sage ich. »Elaine und ihr Mann haben das Abendessen mit uns sehr genossen. Und am
Weitere Kostenlose Bücher