Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
sinnliche Seite ihrer Persönlichkeit. Wenn sie eine Leinwand betrachtete, schärfte sich ihr Blick, und ihre Haut rötete sich leicht, der ganze Körper strahlte eine so intensive Kon zentration und Hingabe aus, dass andere sie einfach bemerken mussten. Sie selbst war sich dieser Verwandlung in solchen Momenten gar nicht bewusst. Deshalb, davon bin ich inzwischen überzeugt, reagierten auch die Künstler so stark auf sie. Wie ich waren sie von ihr angezogen, und das war auch der Grund, warum sie bereit waren, sich für uns von den Werken zu trennen.
Dieser Funke, diese starke sinnliche Aura hielt jedes Mal noch lange an, nachdem wir die Ausstellung verlassen hatten und ins Hotel zurückgekehrt waren. Beim Abendessen funkelten Ruths Augen, und ihre Bewegungen waren von einer Anmut, die ich an ihr bis dahin noch nicht wahrgenommen hatte. Ich konnte es immer kaum erwarten, ins Zimmer zu kommen, wo sie sich als besonders abenteuerlustig und leidenschaftlich erwies. Daher dachte ich damals, was auch immer sie so anregte, es sollte nie aufhören.
Mit anderen Worten, ich war selbstsüchtig.
» D u bist nicht selbstsüchtig«, sagt sie. »Du bist der am wenigsten egoistische Mann, dem ich je begegnet bin.«
In meinen Augen sieht sie so umwerfend aus wie an jenem letzten Morgen unserer Hochzeitsreise, als wir am See standen. »Gut, dass ich dir nie erlaubt habe, dich mit anderen Männern zu treffen, sonst wärst du vielleicht anderer Meinung.«
Sie lacht. »Ja, mach du nur Scherze. Du hast immer gern den Witzbold gespielt. Aber ich sage dir, es war nicht die Kunst, die mich verwandelt hat.«
»Das kannst du nicht beurteilen. Du konntest dich selbst schließlich nicht sehen.«
Wieder lacht sie, wird dann aber plötzlich ernst und spricht mit großem Nachdruck. »Ich sage dir, was ich glaube. Ja, ich fand die Werke wundervoll. Aber noch wundervoller fand ich, dass du bereit warst, so viel Zeit für das zu opfern, was ich liebte. Verstehst du, warum mir das so viel bedeutet hat? Zu wissen, dass ich einen Mann geheiratet hatte, der so etwas tat? Du hältst es für nicht der Rede wert, aber ich sage dir eins: Es gibt nicht viele Männer, die sich in ihren Flitterwochen fünf oder sechs Stunden pro Tag mit Fremden unterhalten und Bilder ansehen würden, und das im Grunde, ohne etwas davon zu verstehen.«
»Und worauf willst du hinaus?«
»Ich versuche dir klarzumachen, dass es nicht an den Kunstwerken lag. Sondern daran, wie du mich betrachtet hast, während ich die Bilder ansah. Das hat mich verändert. Mit anderen Worten warst du es, der sich verändert hat.«
Diese Diskussion haben wir im Laufe der Jahre oft geführt, und wir sind eindeutig unterschiedlicher Meinung über dieses Thema. Aber wahrscheinlich ist das unwichtig. In jedem Fall begründete unsere Hochzeitsreise eine Sommertradition, die wir fast unser gesamtes Leben lang beibehalten sollten. Und am Ende, nach jenem schicksalhaften Artikel im New Yorker, definierte die Sammlung uns in vielerlei Hinsicht als Paar.
Die sechs Gemälde, die ich ohne übertriebene Sorgfalt zusammenrollte und auf den Rücksitz legte, waren die ersten von Dutzenden, dann Hunderten, später über eintausend Bildern, die wir letztendlich sammelten. Jeder kennt natürlich van Gogh und Rembrandt und Leonardo da Vinci, Ruth und ich jedoch konzentrierten uns auf die amerikanische Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, und viele der Maler, denen wir über die Jahre begegneten, schufen Werke, die bei Museen und ande ren Sammlern später heiß begehrt waren. Namen wie Andy Warhol und Jasper Johns und Jackson Pollock wurden nach und nach zu einem Begriff, aber auch die Werke an derer, weniger bekannter Künstler wie Rauschenberg, de Kooning und Rothko erzielten irgendwann zweistellige Millionenbeträge bei Auktionen von Sotheby’s und Christie’s, manchmal sogar noch mehr. Woman III von Willem de Kooning verkaufte sich 2006 für über 137 Millionen Dollar, und zahllose Werke von beispielsweise Ken Noland und Ray Johnson erreichten ebenfalls Preise in Millionenhöhe.
Selbstverständlich wurde nicht jeder moderne Künstler berühmt und nicht jedes Gemälde, das wir erwarben, übermäßig wertvoll, aber das war bei unserer Entschei dung über den Kauf eines Kunstwerks nie ausschlag gebend. Heute ist das Bild, das mir am meisten bedeutet, gar nichts wert. Es stammt von einem ehemaligen Schüler von Ruth und hängt über dem Kamin, das Werk eines Amateurs, das nur für mich etwas Besonderes ist.
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