Kein Schatten ohne Licht
starrte ihn an, als wäre ihr dieses Wort völlig fremd. Das war es natürlich nicht, schließlich hatten es ihr ihre Eltern während ihrer gesamten Kindheit pausenlos zugebrüllt, manchmal sogar in Verbindung mit einem eher weniger freundlichen Kosenamen. Trotzdem... der Sinn, der hinter dieser Bezeichnung stand, war ihr noch immer nicht aufgegangen. „Warum?“
Zischend ließ Timon die Luft aus seinen Lungen. „Hölle, Melica – wie kann man eigentlich nur so anstrengend sein?“
„ Alternativ könntest du mir natürlich auch einfach verraten, was wir in Irland wollen“, schlug Melica vor, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Mit einem Mal wurde sie unsanft in den Sitz gedrückt, als ein Rucken durch den Jet ging. Verwirrung. Was war denn jetzt los? Erst dann erlaubte sie sich, einen Blick nach draußen zu werfen. Kahle Baumkronen schossen an ihnen vorbei, verschwanden hinter einem schneebedeckten Hügel und kehrten zurück. Melicas Augen wurden groß. „Sind wir gerade gelandet oder bin ich dumm?“
Zum ersten Mal hörte sie Timons Lachen. Etwa zwei Oktaven zu hoch dröhnte es durch das Flugzeug, schrill und schief und absolut liebenswert. Melica vergaß, dass er sie auslachte, vergaß, dass sie eigentlich wütend darüber sein sollte – stattdessen begann sie selbst, zu grinsen. Sie brauchte gar keine Antwort. Nicht nur, weil der Jet mit einem Mal tatsächlich zum Stillstand kam, sondern weil es sie gar nicht mehr interessierte. Dieses Lachen war pure Magie.
~*~
Glencolumbkille. Wieder und wieder las Melica das Wort, das dort auf dem Schild stand. Leise murmelte sie es vor sich hin. Spätestens am Ende der dritten Silbe vollführte ihre Zunge eine Umdrehung, die wohl niemand so geplant hatte.
Obwohl... vielleicht war das ja genauso geplant. Wahrscheinlich hatten die Iren einen ganz anderen Namen für dieses Dorf, einen Namen, den man ohne zu üben und ohne die geringsten Probleme aussprechen konnte und freuten sich ohne Ende, wenn ein Fremder vorbeikam, der sich beim Versuch „Glencolumbkille“ auszusprechen, die Zunge brach. Ihr Verfolgungswahn kannte einfach keine Grenzen.
„ Seid ihr sicher, dass wir hier richtig sind?“ Dass sich Melica nicht vom Schild entfernte, lag nicht daran, dass sie den Ortsnamen so interessant fand. Zumindest nicht ausschließlich. Eigentlich bewegte sie sich nur nicht von der Stelle, weil es einfach nichts gab, wo sie sich hätte hinbewegen können.
Klar, sie als Großstadtkind war wahrscheinlich auch nicht ganz vorurteilsfrei, aber dieses Dorf hier... das war wirklich ziemlich, ziemlich klein. Vor allem in einer Nacht, in der man kaum die Hand vor Augen sehen konnte.
Timon verdrehte die Augen. „Natürlich bin ich das. Warum sonst sollte ich dem Taxifahrer gesagt haben, dass er uns hierher fahren soll?“
„ Hast du das? Ich hab nur mitbekommen, dass du unverständliches Kauderwelsch vor dich hingebrabbelt hast.“
Zum ersten Mal schienen Timon und Isak etwas gemeinsam zu haben. Melica freute sich für sie, auch wenn diese Gemeinsamkeit daraus bestand, dass sie sie beide für verrückt hielten. Sie war gerne jemand, der anderen dabei half, Freundschaften zu knüpfen.
„ Das war Irisch.“ Die beiden hatten es inzwischen schon drauf, gleichzeitig zu sprechen! Melica sollte Paartherapeutin werden.
„ Es war trotzdem unverständliches Gebrabbel. Nicht einmal der Taxifahrer hat verstanden, was du von ihm wolltest.“
„ Und deshalb hat er uns auch dahin gebracht, wo er uns hinbringen sollte“, entgegnete Timon genervt. „Danke, Melica. Dein Satz macht auf so vielen Art und Weisen keinen Sinn.“
Da Isak ihr lieber nichtssagende Blicke zuwarf, anstatt ihr zu helfen, musste sie ihre Würde wohl ganz allein verteidigen. „Du machst keinen Sinn.“ Würdevoll wie eh und je.
„ Was suchst du denn hier?“, fragte Isak Timon leise und Melica grinste triumphierend. So wie es aussah, hatte sie die Diskussion gewonnen. Zweifellos, weil ihr Argument einfach unschlagbar gewesen war, einen anderen Grund konnte es gar nicht geben.
Timon schüttelte nur den Kopf. „Ich werde mich alleine darum kümmern. Es wäre falsch, euch mit in die Sache hineinzuziehen.“
Enttäuschung legte sich auf Melicas Gesicht. „Das hättest du uns sagen müssen, bevor wir uns dazu bereit erklärt haben, dich zu begleiten“, sagte sie.
„ Irgendjemand musste mich ja fliegen“, entgegnete Timon und zuckte die Achseln.
Melica wusste nicht, ob sie in diesem Moment so guckte,
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