Kein Schlaf für Commissario Luciani
sie aus. Für Ihren Bruder wäre es besser, er würde sich stellen.«
»Aber er hat nichts getan. An besagtem Morgen schlief er. Das habe ich euch gesagt.«
»Wenn er unschuldig ist, warum ist er dann abgehauen, kaum dass er uns in seinem Lokal gesehen hat? Und warum hat er das Handy nicht mitgenommen?«
»Das macht er immer. Er kann nicht am Roaming teilnehmen, überprüft das. Außerdem wusste er gar nichts davon, von den Polizisten. Dieser lange Lulatsch hat mir Fragen zu Barbara Ameri gestellt, aber ich habe Maurizio nichts davon erzählt.«
»Wer’s glaubt, wird selig. Bei seinem Vorstrafenregister erkennt der uns sofort.« Und der lange Lulatsch sollte sich lieber um seinen eigenen Scheiß kümmern, dachte Giampieri.
Dann war wieder Venuti dran.
»Kannte dein Bruder Mantero gut?«
»Das wisst ihr doch. Mantero war sein Anwalt, vor einigen Jahren. Und als Maurizio aus der Haft entlassen wurde, half er ihm, Arbeit zu finden.«
»Bei der Wohltätigkeitsorganisation. Er fuhr die LKW mit den Hilfsgütern.«
»Genau.«
|283| »Und wurde rausgeworfen, weil er klaute.«
Die Merli stand auf: »Wer behauptet das?«
»Setz dich«, zischte Venuti, »das hat mir ein Vögelchen gezwitschert. Es gab keine Anzeige. Vielleicht hatten sie Mitleid, vielleicht wollten sie nicht, dass irgendwer seine Nase in diese Container steckt, aber er wurde in flagranti erwischt.«
Die Schwester antwortete nicht.
»Und du, kennst du Mantero?«
»Klar. Wegen der Geschichte mit meinem Bruder. Und von einigen Exkursionen ins Gebirge.«
»Und Barbara, kanntet ihr die auch?«
»Ich sah sie zum ersten Mal letzten Monat, sie kam mit ihren Freundinnen in mein Lokal. Ich weiß nicht, ob mein Bruder sie schon bei Mantero gesehen hatte, möglich ist es.«
»Weißt du, ich frage mich nur, ob dein Bruder gezielt dort hingegangen ist, um Barbara umzubringen, oder ob er bei dem Anwalt etwas klauen wollte, und Barbara früher als erwartet kam. Zu welchem Schluss bist du gekommen?«
Emanuela Merli schüttelte den Kopf: »Dass ich seit sechs Stunden hier hocke. Dass du immer schlimmer stinkst. Dass gegen mich keine Anschuldigungen erhoben werden und dass ich, wenn ihr mich nicht auf der Stelle gehen lasst, Anzeige erstatten werde.«
Venuti verließ wortlos das Zimmer. Er wusste, dass er nichts aus ihr herausbringen würde, aber dieses Geduldspiel diente auch dazu, das Fahndungsnetz zu spinnen. Die Telefonanschlüsse in Wohnung und Lokal wurden angezapft, auch die von Mantero, der dieser Maßnahme sofort zugestimmt hatte; ebenso EC- und Kreditkarte, Interpol war eingeschaltet. Wenn Maurizio Merli das Bargeld ausging oder wenn er die Schwester oder den Anwalt zu kontaktieren versuchte, dann schnappte die Falle zu.
|284| Sie machten den ganzen Tag weiter, stellten immer wieder dieselben Fragen und hofften, dass bei ihr die Sicherungen durchbrennen würden. Um acht Uhr abends schickte die Serra die beiden Polizisten weg und versuchte, Emanuela Merli in einer Schlussoffensive zu knacken.
»Fräulein Merli, wo war Ihr Bruder Montag, den dreißigsten Mai, um acht Uhr dreißig?«
»Was weiß ich? Fragen Sie ihn das selbst.«
»Das scheint mir nicht die Haltung einer Schwester zu sein, die ihn gegen Anschuldigungen verteidigen will. Abgehauen ist er schon, wenn Sie sich jetzt auch noch weigern, zu kollaborieren, was sollen wir dann denken?«
Emanuela Merli schnaubte. Diese Frau hatte recht. Für sie war ihr Bruder der ideale Täter, perfekt. Es war an ihr, ihnen das auszureden.
»Okay, wollen wir mal sehen, ob ich mich erinnere … Montagmorgens bin ich normalerweise todmüde, denn sonntags schließen wir, nach dem Saubermachen und allem, erst um drei, und dann schlafe ich wie ein Stein. Mein Bruder steht in jedem Fall früh auf, oft geht er joggen.«
Hinter der Scheibe hörte Giampieri, irgendwo in seinem Kopf, eine Glocke läuten.
»Versuchen Sie, sich zu erinnern: dreißigster Mai. Haben Sie keinen Terminkalender oder so etwas? Ein Mord in Ihrer Stadt … Wie ist es möglich, dass Sie sich nicht erinnern, was Sie an jenem Morgen taten?«
Die Merli schüttelte den Kopf. Kein Terminkalender. Sie fixierte den kleinen Tischkalender auf der Schreibplatte, nahm ihn in die Hand, murmelte die Liste der Dinge, an die sie sich erinnerte, bis ihr schließlich die Erleuchtung zu kommen schien.
»Dreißigster Mai! Da hatte ich einen Termin beim Steuerberater. Daran erinnere ich mich, ja. Und ich sprach mit meinem Bruder, ehe ich aus der Wohnung
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