Kein Schlaf für Commissario Luciani
ging.«
|285| »Wie spät war es da?«
»Ich war um halb zehn in Genua verabredet, das heißt, ich nahm den Zug um acht Uhr fünfunddreißig. Ich werde wenige Minuten vorher losgegangen sein, wir wohnen direkt am Bahnhof, und mein Bruder war noch da.«
»War er joggen gegangen?«
»Ich meine, dass er gerade los wollte. Er trug seine Laufklamotten.«
Sicher, dass er nicht schon vorher laufen gewesen war?, dachte Giampieri hinter seiner Scheibe.
»Sind Sie sicher, dass er nicht schon vorher laufen gewesen war?«, fragte die Serra.
Emanuela Merli lächelte: »Wenn er vom Laufen kommt, dann riecht man das. Er stinkt fast schlimmer als dieser dicke Kommissar. Und er stank nicht.«
Venuti kratzte sich unter einer Achsel. Dann führte er zwei Finger an die Nase und setzte eine besorgte Miene auf.
»Wenn ich nervös werde, schwitze ich«, sagte er Giampieri, »und weißt du, wann ich nervös werde? Wenn mir jemand Märchen erzählt.«
Mir kommt sie aufrichtig vor, dachte Giampieri.
Emanuela Merli fixierte die Serra: »Ich habe die Wahrheit gesagt. Mein Bruder hat damit nichts zu tun. Ihr seid auf dem Holzweg, wollt ihr das nicht einsehen?«
»Warum ist er dann abgehauen?«
»Er ist nicht abgehauen. Er ist nur auf einem seiner Kurztrips. Er wird drei oder höchstens vier Tage unterwegs sein.«
»Sie haben nichts dagegen, wenn wir noch einmal in Ihrer Wohnung vorbeischauen und ein paar von den Joggingklamotten mitnehmen?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Macht ruhig. Aber ich fürchte, die sind in der Waschmaschine.«
|286| Monica Serra lächelte: »Kein Problem. Sie wissen, dass Waschmittel nicht waschen, oder? Sie überdecken nur.«
Der Ingenieur kehrte todmüde nach Hause zurück, setzte sich mit seinem Happy Meal, das er bei McDonald’s mitgenommen hatte, vor den Fernseher, spielte ein bisschen mit der Bugs-Bunny-Puppe, die er dazubekommen hatte, herum, dann schob er die DVD von dem Fackelumzug in den Player und stellte auf Schnelldurchlauf, bis das Transparent des Clubs Rapallo Quattromila und Emanuela Merlis finstere Miene auftauchten. Als die Kameraeinstellung sich ein wenig weitete, drückte er auf Standbild. Die Aufnahme war gestochen scharf. Damals hatte er ihn nicht bemerkt, er konnte ihn gar nicht bemerken, aber jetzt erkannte er ihn genau, den Schopf von Maurizio Merli. Er stand rechts, knapp hinter der Schwester, und hörte aufmerksam zu, wie sie den Anwalt verteidigte. Und zwar nicht durch eine vage Solidaritätsbekundung, sondern mit der Selbstsicherheit eines Menschen, der
wusste
, dass er unschuldig war. Denn der wahre Täter stand daneben und nickte mit seiner Visage eines Vorstadtrowdys.
|287| Donnerstag
Luciani
Eine sanfte Berührung weckte ihn: die Hand seiner Mutter. »Warum hast du denn hier geschlafen? Du hättest dich aufs Sofa legen können.«
Marco Luciani hob den Kopf von seinen Armen, die auf dem Schreibtisch lagen. Er saß in seinem Zimmer, neben dem Bett des Vaters. Mit Mühe streckte er die Beine aus, die unter dem Stuhl klemmten. Die Gelenke gaben ein furchterregendes Knacken von sich.
»Ich hatte Angst, ich würde ihn nicht hören.«
»Dann leg dich jetzt ein bisschen hin.«
»Nein, danke. Jetzt bin ich wach. Wie spät ist es?«
»Fast acht.«
»Ich trinke einen Kaffee, dusche mich und schaue in meiner Wohnung vorbei. Gestern Abend habe ich noch mit der Pflegerin geredet, sie kommt heute Abend um acht und bleibt bis morgen früh.«
»Einverstanden. Und du schläfst dich einmal bei dir zu Hause aus, in aller Ruhe.«
Der Kommissar lächelte bitter. Zu Hause schlafen. Schön wär’s. »Wenn Not am Mann ist, ruf mich an.«
»Gut. Geh ruhig ins Bad, ich setze den Kaffee auf. Ich habe dir ein sauberes Handtuch auf die Badewanne gelegt. Ach, es gibt wichtige Neuigkeiten im Fall Ameri, habe ich heute Morgen im Videotext gelesen. Wie es scheint, haben sie den Kerl erwischt.«
Der Kommissar stellte den Fernseher an und reimte sich zusammen, was am Vortag, im Anschluss an die Hausdurchsuchung bei Merlis, passiert war. Er war sauer, dass ihn |288| weder Giampieri noch jemand anderes angerufen hatte. Andererseits, warum hätten sie es tun sollen? Er wartete die Morgennachrichten ab und blieb wie angewurzelt vor den Bildern der Staatsanwältin Monica Serra sitzen, die im Hintergrund liefen, während der Sprecher erklärte, der Fall sei praktisch aufgeklärt und die Zuschauer seien aufgerufen, bei der Suche nach dem mutmaßlichen Täter mitzuhelfen. Der Mann sei mit einem
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