Kein Schlaf für Commissario Luciani
Das Gebäck war noch warm, und er musste sich beherrschen, um nicht gleich hineinzubeißen, er wollte lieber zuerst hoch in die Wohnung und sich duschen. Die Harnausscheidungen, eine kleine Aufmerksamkeit der Wochenendsäufer, verliehen der Gasse den besonderen Duft; er versuchte die Luft anzuhalten und flüchtete sich in seinen Hauseingang, wo es wenigstens nur nach Feuchtigkeit und Schimmel aus dem Keller roch. Die Treppenstufen waren von einer Putzschicht bestäubt, in den Ecken häuften sich Zigarettenstummel. Der auf dem Rücken liegende Kakerlak, den er schon vor zwei Tagen bemerkt hatte, war noch nicht entfernt worden. Jeder Mieter hätte sich eigentlich um seinen Treppenabschnitt kümmern sollen, aber niemand verschwendete einen Gedanken daran. Weder der Neapolitaner aus dem ersten noch die Sri-Lanker aus dem zweiten oder die alte Frau aus dem vierten Stock. Auch Luciani hatte inzwischen die Nase voll und schaute zu, wie der Kalk von den Wänden rieselte, und wenn sich der Staub zu großen grauen Knäueln verdichtete, dann schob er diese schlichtweg einen Stock tiefer.
Er wollte gerade die zweite Treppe hoch, als sich hinter ihm die Tür des Neapolitaners öffnete.
»Buongiorno, Commissario.«
Marco Luciani unterdrückte eine Unmutsbekundung. Musste der den ganzen Tag auf der Lauer liegen und jedes |40| Mal auftauchen, wenn Luciani eine Tür oder ein Fenster öffnete?
»Commissario, für dich ist ein Einschreiben gekommen. Ich habe mir erlaubt, das entgegenzunehmen, damit du nicht zur Post musst.«
»Ach, danke.«
Der Mann zeigte ihm das Kuvert. »Ehrlich gesagt, ist es schon am Freitag gekommen, ich habe ein paarmal bei dir geklingelt, aber du warst nicht da. Willst du wissen, was drin steht?«
»Hast du es aufgemacht?«
»Natürlich nicht. Aber ich hab meines aufgemacht. Wir alle hier im Haus haben eins bekommen. Und es sind keine guten Neuigkeiten.«
Marco Luciani riss schnell eine Seite des Umschlags auf. Er wollte den Inhalt lesen, ehe der andere ihm zuvorkommen konnte, aber er war nicht schnell genug.
»Die haben uns verscherbelt, Commissario! Die haben uns alle an einen Mailänder Immobilienfritzen verscherbelt. Lies nur.«
Der Kommissar überflog schnell den Brief: »Sehr geehrter Herr … möchten wir Ihnen mitteilen … zum 20. Mai d. J. … mit notarieller Beglaubigung in der Kanzlei usw. … die Verkaufsurkunde … neuen Eigentümer Ihres Appartements … Vollsanierung des Gebäudes … ausgenommen die vom Gesetz vorgesehenen Ausnahmeklauseln … mit Ablauf Ihres Mietvertrages zum 31. Dezember.«
»Die setzen uns auf die Straße«, entfuhr es Marco Luciani. Es stimmte zwar, dass er es nicht erwarten konnte, aus diesem stinkenden Loch herauszukommen, aus dem verkommensten Eck der Altstadt, aber aus eigenem Antrieb zu gehen war eine Sache, hinausgeworfen zu werden eine andere, auch wenn es mit fristgerechter Vorankündigung geschah.
|41| »Siehst du? Dann stimmten die Gerüchte, die ich aufgeschnappt hatte. Die Eigentümer haben alle verkauft, einer nach dem anderen. Besser gesagt: alle gemeinsam.«
Marco Luciani las sich alles noch einmal langsam durch. Es gab keinen Zweifel, die vier Apartments des Hauses waren alle an eine Mailänder GmbH verkauft worden. Nun wurden die Mieter über den bevorstehenden Beginn der Sanierungsarbeiten in Kenntnis gesetzt, die in Rekordzeit durch eine von der Hausverwaltung anberaumte außerordentliche Eigentümerversammlung beschlossen worden waren.
»Ich war sicher, dass der Enkel von der Alten verkaufen würde«, fuhr der Neapolitaner fort. »Sie hatte ihm das Apartment schon überschrieben, ohne sich das Wohnrecht zu sichern, und jetzt landet sie im Armenhaus, das sage ich dir. Und es geschieht ihr ganz recht, dieser alten Schreckschraube.«
»Und dein Wohnungseigner? Sagte der nicht immer, er wolle nicht verkaufen, er würde es eines Tages seinem Sohn vermachen?«
»Aber sicher, das hat er mir hoch und heilig versprochen! Ich habe trotzdem damit gerechnet, dass es so endet, und weißt du was? Ich verstehe ihn sogar. Hier müssen das Dach, das Treppenhaus und die Fassade erneuert werden, das weißt du besser als ich. Solange alle hier nur kleine Fische waren, die keinen Cent ausgeben wollten, wurden die Arbeiten immer aufgeschoben – Pech für die Mieter. Wenn aber erst ein großer Fisch kommt, der die Mehrheiten hält, siehst du, was der macht? Er beruft eine Versammlung ein, beschließt, dass er alle Arbeiten ausführt, wie ihm gerade der Sinn
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