Kein Schlaf für Commissario Luciani
abgelegenen Villa zu lassen. Leider gab es Leute, die in den Zeitungen die Todesanzeigen kontrollierten und die Häuser ausräumten, bevor es die Erben taten.
»Natürlich bleibe ich, Mama. Was für eine Frage«, tröstete er sie, wobei er ihr sanft übers Haar strich, um die Frisur |340| nicht zu ruinieren. Aber er dachte, dass dieses Problem bestehen blieb, von nun an würde es sich jede Nacht stellen. Er konnte seine Mutter sicher nicht nach Genua holen. Zuerst einmal, weil er keine anständige Wohnung hatte, und dann wäre es eine sinnlose Gefühllosigkeit gewesen, sie gerade jetzt aus ihrer gewohnten Umgebung zu reißen. Er war es, der bei ihr schlafen musste, in der Hoffnung, dass es ihr bald bessergehen würde.
»Also machen wir es morgen?«
»Ja. Ich möchte, dass so viele Leute wie möglich da sind.«
»Eine Beerdigung am Sonntag. Wie hast du den Priester denn dazu überredet?«
»Das war nicht schwer. Für uns macht er gerne eine Ausnahme. Und für den Umschlag, den ich ihm in die Hand drücken werde.«
»Aber viele werden nicht einmal die Todesanzeige sehen.«
»Sie werden es in den Nachrichten hören. Dein Vater war kein Niemand, weißt du. Mit ihm verabschiedet sich ein Stück Geschichte dieses Landes. Und eines Tages wird jemand diese Geschichte neu schreiben.
Sie zogen dem Großen Cäsar seinen schönsten Anzug an, einen Maßanzug von Armani in feinster Sommerqualität, in den er jetzt allerdings zweimal hineingepasst hätte. Die Mutter fragte, ob sie ihn für diese Nacht in Marcos Zimmer lassen konnten, und der Kommissar nickte. Er hatte genügend Leichen gesehen, der Tod schreckte ihn nicht mehr. Er würde die Leute vom Bestattungsinstitut bitten, dass sie seinen Vater schon an diesem Nachmittag schminkten, um möglichst die Spuren der Krankheit zu überdecken.
Der Kommissar trank, statt des gewohnten Tees, einen Kaffee. Den brauchte er, um sich einen Tag lang mit der ganz gewöhnlichen italienischen Bürokratie herumzuschlagen. |341| Es war vielleicht das erste Mal, dass ihm so richtig ein Bruder oder eine Schwester abgingen, mit denen er Trauer und Verantwortung hätte teilen können.
Wer weiß, warum seine Eltern ein Einzelkind gewollt hatten, wenn es denn ihre Entscheidung gewesen war. Er nahm sich vor, seine Mutter in den nächsten Tagen, mit dem nötigen Takt, danach zu fragen. Er meinte sich zu erinnern, dass seine Eltern glücklich miteinander waren, zumindest in seiner Kindheit, aber das war eine vage und vielleicht verfälschte Erinnerung. Was ihn selbst anging, erinnerte er lange Nachmittage, die er mit irgendeinem Freund im Garten verbrachte: Die Schulkameraden stritten sich darum, wer zu ihm zum Fußball- oder Tennisspielen kommen durfte. Er war nie eines der Einzelkinder gewesen, die sich im Zimmer einschließen, um zu büffeln oder mit einem imaginären Begleiter zu sprechen, und doch musste er zugeben, dass ihn, als er klein war, die kinderreichen Familien seiner Klassenkameraden faszinierten. Vielleicht hatte er deshalb, zuerst beim Fußball und später bei der Polizei, immer nach einem Team- und Korpsgeist gesucht, der ihm in der Familie abgegangen war.
»Woran denkst du?«, fragte die Mutter.
»Ach, nichts Besonderes. An meine Kindheit.«
Sie lächelte. »Auch ich dachte an damals. Das war die schönste Zeit unseres Lebens. Während man drinsteckt, ist man zu müde, um sie zu genießen, aber später merkt man genau, wie sie war … etwas Besonderes.«
Marco Luciani nickte. Die Mutter drückte seinen Unterarm.
»Auch du wirst Kinder haben, oder? Früher oder später?«
Er wandte den Blick ab, unangenehm berührt. Das war eine so banale Frage in diesem Augenblick. Die hätte seine Mutter sich sparen können.
Aber sofort schämte er sich wieder. Womit sonst sollte |342| eine Frau, die gerade Witwe geworden war, den Gedanken an den Tod verscheuchen? Sie wollte zusehen, wie neues Leben gedieh.
»Wer weiß, Mutter. Vielleicht habe ich schon welche und weiß es gar nicht.«
»Holzkopf. Mit solchen Dingen spaßt man nicht. Hast du denn eine feste Freundin?«
»Mutter …«
»Okay, okay. Ich verstehe. Ich werde nicht die aufdringliche Mutter spielen. Das war ich, glaube ich, nie. War nur eine Frage.«
Der Kommissar legte eine Hand aufs Herz und hob die andere in die Höhe. »Wenn ich ein Kind zeuge, wirst du die Zweite sein, die es erfährt.«
»Die Dritte. Deine Frau wird es zuerst ihrer Mutter sagen.«
Sie lächelte ein wenig. »Siehst du? Ich rede schon wie
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