Kein Schlaf für Commissario Luciani
dass sie ehrlich wirkte.
Venuti, der neben dem Fenster stand, antwortete kalt: »Vorsicht mit deinen Anschuldigungen, Mädchen. Dein
Bruder hat sich umgebracht.«
»Nein. Er hat sich nicht umgebracht. Das hätte er nie getan.«
»Warum?«
»Weil er unschuldig war. Er hatte nichts zu befürchten.«
»Das ist deine Meinung, und nicht mehr. Und jedenfalls kannst nicht einmal du sicher sein. Er hätte auch weggegangen sein können, während du schliefst.«
»Ich hätte ihn gehört. Und außerdem habt ihr nichts gefunden, weder in der Wohnung noch auf den Joggingklamotten.«
»Die Laborergebnisse sind noch nicht …«
»Jetzt red keinen Scheiß! Die bekommt ihr sofort, diese Ergebnisse. Wenn ihr nichts sagt, dann deshalb, weil es nichts zu sagen gibt!«
»Der Fall ist noch nicht abgeschlossen, Fräulein Merli«, sagte Giampieri, »wir werden alles gewissenhaft überprüfen, |346| das versichere ich Ihnen. Und an der Leiche Ihres Bruders wird eine Autopsie vorgenommen werden. Aber machen Sie nicht uns für seinen Tod verantwortlich. Für uns wäre es viel günstiger gewesen, wir hätten ihn lebend gefangen, um die ganze Geschichte endgültig aufzuklären.«
Emanuela Merli verzog das Gesicht. »Sie wollten ihn vielleicht lebend, kann sein, aber jemand anders nicht. Eines ist so sicher wie das Amen in der Kirche: die Geschichte ist noch nicht zu Ende.«
Der Ingenieur blätterte schnell den Stapel Zeitungen durch und sah, dass der Fall für die so genannte öffentliche Meinung als abgeschlossen galt. Es gibt einen flüchtigen Tatverdächtigen, er macht einen Fehler, die Polizei treibt ihn in die Enge, und er begeht Selbstmord. Alles wirklich ziemlich klar. Wie aus dem Lehrbuch.
Monica Serra schien um fünf Zentimeter gewachsen zu sein, als sie sich zu einer neuen triumphalen Pressekonferenz aufmachten.
Vier Mordfälle, Aufklärungsquote: hundert Prozent. Allmählich gewann der Lebenslauf der Stellvertretenden Staatsanwältin wirklich ein interessantes Profil. Und was die Public Relations anging – da brauchte sie nichts mehr dazuzulernen.
Sie setzte sich in die Tischmitte, vor die mit Notizbüchern, Diktaphonen und Fernsehkameras aufgereihten Journalisten. Sie strich die »hervorragende Leistung« der italienischen Polizei heraus und dankte den Kollegen von Interpol und französischer Polizei. Sie erwies dem Polizeichef und dem Oberstaatsanwalt für deren Unterstützung ihre Reverenz, dann sprach sie all ihren Mitarbeitern ihren Dank aus, wobei sie Venuti und Giampieri namentlich erwähnte. Eine Laudatio wie bei der Oscarverleihung, die protokollarischen Danksagungen eingeschlossen; aber das |347| alles hob nur hervor, dass sie es gewesen war, die die Ermittlungen gesteuert hatte, dass sie die Hauptdarstellerin war, die jetzt die Oscarstatuette in der Hand hielt.
Dann setzten die Fragen ein. Zum Fahndungsverlauf und zum Selbstmord des Flüchtigen.
»Maurizio Merli hatte gemerkt, dass ihm kein Fluchtweg mehr blieb, er saß in der Falle. Dabei war auch Ihre Unterstützung, durch die Verbreitung des Fotos, entscheidend«, sagte sie, um sich weiter bei der Presse einzuschmeicheln. »Natürlich hätte niemand von uns mit einem so tragischen Ausgang gerechnet.«
»Was, glauben Sie, ist passiert?«
»Ich denke, er hat den Kopf verloren. Er muss gemerkt haben, dass ihn jemand, vielleicht ein Passant, erkannt hatte, er stieg auf sein Motorrad und fuhr ins Landesinnere, auf abgelegene Nebenstraßen. Eine logische Entscheidung. Er kam von der Straße ab, erkannte, dass das Spiel aus war, und …«
Der Overall hatte nicht eine Schramme, dachte Giampieri, drei Plätze weiter. Und es macht keinen Sinn, Richtung Italien zu fliehen. Wie es keinen Sinn macht, einem Hotelier den richtigen Ausweis zu zeigen. Er schaute die Journalisten durchdringend an, als wollte er ihnen die richtigen Fragen suggerieren.
»Was gibt es zur Pistole zu sagen?«
»Eine Smith & Wesson, Kaliber 38. Dank Registriernummer wurde sie bereits von uns identifiziert. Sie wurde vor sechs Jahren aus einem Waffenladen in Padua geraubt. Die Täter sind nie ermittelt worden.«
Vielleicht weil es keine gewöhnlichen Räuber waren, dachte Giampieri. Und am Tag des Überfalls saß Merli im Knast, das habe ich bereits im Archiv überprüft. Klar, er könnte die Waffe auch über Mittelsmänner bekommen haben.
|348| »Da der mutmaßliche Täter tot ist, werden wir das Motiv nie erfahren. Und die Tatwaffe im Fall Ameri? Wurde die gefunden?«
Endlich eine
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