Kein Schlaf für Commissario Luciani
eine Schwiegermutter.« Sie setzte sich, schaute aus dem Fenster, und Marco Luciani ließ sie eine Weile weinen.
Er kannte den Chef des Bestattungsunternehmens gut, und als Polizeikommissar konnte er bei den Behördengängen einige Abkürzungen nehmen. Er suchte einen Sarg aus, der nicht übertrieben teuer war, da er ja gemeinsam mit dem Großen Cäsar eingeäschert werden sollte. Außerdem eine würdevolle Urne, ohne Schnickschnack, da sie unter der Erde verschwinden würde. Dagegen sparte er nicht an Blumen und Dekoration für die Kirche, er wusste, dass seine Mutter Wert darauf legte. Und auch er wollte, dass die Menschen, die sich voller Herzenswärme an seinen Vater erinnerten, ein letztes positives Bild von ihm mitnahmen. Der Tag zog sich hin mit Unterschriften, Papierkram, Genehmigungen und Traueranzeigen für Zeitungen und Hauswände. Es war schon nach sechs, als er in die Via San Lorenzo |343| kam und in die Gassen einbog. Er dachte, dass sein Abenteuer in dieser Gegend bald vorbei war. Ein Lebensabschnitt ging zu Ende, und wie so oft kam alles gleichzeitig, die Kündigung in der Dienststelle, die Wohnungsräumung, der Tod des Vaters. Sein kleiner, persönlicher Schutzengel versuchte ihm irgendetwas zu sagen, ihn in eine bestimmte Richtung zu lenken. Aber wohin? Was konnte Luciani jetzt mit seinem neuen Leben anfangen, und was konnte er aus seinem alten Leben mitnehmen? Er dachte an die Wohnung des Großvaters, die alte Wohnung in Randlage, die seit Jahren leer stand. Sollte er sie nicht doch behalten? Statt sie zu opfern, um Villa Patrizia zu retten, konnte er auch das Haus seiner Eltern aufgeben und ein anderes in Camogli suchen, kleiner und zentraler gelegen, wo die Mutter von Nachbarn und einem sozialen Netzwerk umgeben war. Und er konnte nach Mailand gehen und die Wohnung peu à peu von eigener Hand renovieren. Er war handwerklich nie besonders geschickt gewesen, aber er konnte es lernen, Zeit hatte er genug und auch Lust. Nach den Jahren, die er mit Grübeleien und Hirnverrenkungen verbracht hatte, wäre das eine ideale Therapie, Fliesen zu zerdeppern und den Pinsel zu schwingen.
Er spielte eine Weile mit der Idee, in eine andere Stadt zu ziehen, andere Luft zu atmen. Aber die Luft in Mailand war grau, und außerdem musste er in der Nähe seiner Mutter bleiben, zumindest die erste Zeit. Auch wenn er keine Frau hatte, keine Familie, keine Wohnung, keine Arbeit, keine Freunde, so gab es immer noch irgendwelche Bindungen, die ihn zurückhielten, die ihn an sein früheres Leben ketteten. Und was ihn am meisten beeinflusste, würde vielleicht die Erinnerung an seinen Vater sein, an das, was dieser ihm in den letzten Tagen gesagt hatte. Die neue Perspektive, die dieser ihm auf seine Wahl des Polizeiberufs eröffnet hatte: nicht als Racheakt gegen den Vater, sondern |344| als Entscheidung für den Beruf, zu dem er tatsächlich berufen war. Als Toter war der Vater in seinen Gedanken viel präsenter, als er es Jahre lang als Lebender gewesen war.
Die Sankt-Matthäus-Kirche stand vor ihm, strahlte im Sonnenlicht. Marco Luciani trat ein, nahm die dunkle Brille ab und bekreuzigte sich mit Weihwasser. Der Gesichtsausdruck des heiligen Judas wirkte anders als beim letzten Mal, das Lächeln war nicht mehr höhnisch, sondern heiter, befriedigt.
Er nahm einen Hundert-Euro-Schein aus der Tasche und faltete ihn, damit er durch den Schlitz des Opferstocks passte.
»Saubere Arbeit, heiliger Judas. Herzlichen Dank. Ich weiß nicht, ob dir das recht sein wird, aber diesmal hast du mir geholfen, ein gutes Werk zu tun.«
Er kehrte nach Camogli zurück und setzte sich mit der Mutter vor die Abendnachrichten. Der Tod des Vaters gehörte zu den Hauptmeldungen, kam aber nach den Neuigkeiten im Fall Ameri. Er sah das strahlende Gesicht der Staatsanwältin Monica Serra, die alle Einzelheiten zum Fahndungserfolg des Vortages erläuterte, und ihm fiel wieder der Satz ein, den Nicola ihm gesagt hatte. Er würde ihn morgen während der Beerdigung fragen, was ihn denn nicht überzeuge.
|345| Samstag
Giampieri
»Ihr habt ihn umgebracht, ihr Schweine! Ihr habt ihn umgebracht! Ihr habt um jeden Preis einen Schuldigen gebraucht, aber er war es nicht!«
Emanuela hatte die Fäuste auf Giampieris Schreibtisch gestützt. Der Ingenieur schaute sie an: eine von Schmerz und Wut verzerrte Fratze mit roten Augen und zerzaustem Haar. Das Erste, was er dachte, war, dass er sie weniger hässlich in Erinnerung hatte. Das Zweite,
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