Kein Schlaf für Commissario Luciani
nahm sich vor, keine Angst zu haben. Jacky bemerkte just in diesem Moment, dass er keine Zigaretten mehr hatte. »Macht es dir etwas aus, wenn ich welche holen gehe?«
»Ach was! Geh ruhig.«
Der andere Bursche bot ihm eine von seinen an.
»Nein, du hast kaum noch welche. Ich brauche nur einen Moment. Weißt du, wo der nächste Automat ist?«
»Der nächste … ich glaube, der ist am Bahnhof. Wenn du willst, bringe ich dich hin, dann ziehe ich auch welche, morgen ist ja Sonntag.«
Sie standen auf und verständigten sich mit einem stummen Blick. Barbara wusste, dass sie so schnell nicht wiederkommen würden. Das heißt, vielleicht würden sie gar nicht zurückkommen.
»Wir brauchen nur eine Minute«, sagte Jacky, er grinste und zwinkerte ihr zu. Dann beugte er sich hinunter, gab ihr
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einen Kuss auf die Wange und flüsterte: »Wenn ich in einer Viertelstunde nicht wieder da bin, dann geh ruhig nach Hause. Oder stürz dich auch ins Getümmel. Das ist unser Abend, Babi, nur Mut.«
Barbara wäre am liebsten aufgestanden und mit ihnen mitgegangen, aber sie wollte nicht das fünfte Rad am Wagen sein. Sie sah sie weggehen und seufzte leise. Sie trank noch einen Schluck von ihrem Mojito, ihr Kopf war ein bisschen schwer, aber das Gefühl war angenehm. Schade nur, dass sie es mit niemandem teilen konnte.
Sie holte ihr Buch aus der Tasche, schlug es an der richtigen Stelle auf und las weiter: »›Streichholz‹, sagte ich, ›ich liebe dich. Dein Name ist Henrietta. Ich liebe dich von ganzem Herzen.‹«
»Wenn man als Frau eine Nervensäge auf den Plan rufen will, dann gibt es keine bessere Methode, als sich allein mit einem Buch in der Hand an einen Tisch zu setzen.«
Sie sah auf und rang sich ein Lächeln ab. Der Moment, auf den sie hoffte und vor dem sie sich gleichzeitig fürchtete, war gekommen.
»Darf ich mich setzen?«
»Bitte.«
»Haben diese Unholde dich allein gelassen?«
Sie erkannte das Zitat und quittierte es mit einem kurzen Lacher.
»Dein Mojito ist fast leer. Darf ich dich zu einem neuen einladen?«
»Nein, lass gut sein. Das brauchst du nicht.«
»Was heißt hier ›brauchen‹? Hier bin ich der Boss.« Barbaras Gegenüber schnippte mit den Fingern und sagte in aufgesetztem Ton: »Barkeeper, noch einen Mojito. Aber tu den besten Rum rein, den, den du unterm Tresen versteckst.«
Ein bisschen Aufschneiderei, harmlos und witzig, dachte Barbara. Ich darf mich zu nichts Unüberlegtem verleiten lassen.
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Aber im Grunde bin ich, auch wenn ich es nicht zugeben will, deshalb hergekommen. Nicht nur, um Jacky zu begleiten. Das war es, worauf ich den ganzen Abend gewartet habe, eigentlich schon viel länger, und jetzt muss ich dieses Spiel zu Ende spielen, er hat recht, sonst werde ich nie den Mut dazu aufbringen.
»Hier ist der Mojito.« Maurizio Merli reichte ihr das Glas, warf der Schwester einen Blick zu, der so viel hieß wie: »Zieh Leine«, und den diese mit einem ebenso giftigen Blick quittierte.
Barbara nahm diesen stummen Schlagabtausch nicht wahr. Sie war ganz damit befasst, Ruhe zu bewahren. Wann kam die berüchtigte Frage: »Zu dir oder zu mir?« Zum Glück hatte sie sturmfreie Bude und musste sich nicht in die Höhle des Löwen begeben. Dann beschloss sie, sich ihrem Schicksal zu überlassen, sich von dem prickelnd-warmen Strom der Ereignisse forttragen zu lassen wie von ihrem dritten Mojito. Man sagt, es sei die Frau, die bei diesem Spiel das Heft in der Hand hält, dachte sie. Vielleicht ist deshalb bei mir nie etwas herausgekommen. Aber heute Abend wird alles anders werden.
»Wo habe ich dich denn schon mal gesehen?«
Barbara verdrehte die Augen. »Komm, die Masche ist alt.«
»Nein, jetzt mal im Ernst. Letzte Woche. Da warst du hier. Du hast mit einer Freundin deren Abschied vom Single-Dasein gefeiert, wenn ich mich nicht täusche.«
»Was für ein Gedächtnis!«
»Nun, dein Gesicht vergisst man nicht so leicht. Es ist so zart, aber ausdrucksvoll. Und du hast wunderschöne Augen.«
Deine sind auch wunderschön, dachte Barbara. Grausam und wunderschön.
|400| Mittwoch
Luciani
Für den letzten Gruß an Nicola hatte der Kommissar den Dom von San Lorenzo ausgewählt. Er wusste, dass sein Vize nicht gläubig war und vielleicht ein weltliches Begräbnis bevorzugt hätte, aber Begräbnisse sind als Trost für die Hinterbliebenen gedacht, und wenn es schon eine Kirche sein sollte, wie die Eltern wünschten, dann die größte und wichtigste der Stadt, die Kirche, in der
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