Kein Schlaf für Commissario Luciani
das Geheimnis des Lebens und das Licht des Herrn von sich. Marco Luciani wäre am liebsten selbst auf die Kanzel gestiegen, wie in einem amerikanischen Film, er hätte einen schönen Song auflegen lassen und all diesen Leuten ein paar amüsante oder anrührende Anekdoten erzählt, kurz, er hätte dieser Versammlung von armen Seelen gerne eine andere Botschaft mitgegeben als: »Es wird jeden von euch erwischen, ich werde mir einen nach dem anderen holen.« Was für ein Trost!
Nach der Kirche gingen die Kollegen von der Mordkommission in die nächste Bar, um gemeinsam noch etwas zu trinken. Luciani kam nur mit, um nicht unhöflich zu wirken, dann ging er schnell wieder. Er wollte alleine sein und über die nächsten Schritte nachdenken. Er konnte sich keinen Fehler erlauben, bis zu seiner Entlassung waren es nur |406| noch wenige Tage, und wenn er erst einmal draußen war, dann wurde es schwierig für ihn, zu Nicolas Tod zu ermitteln. Und zu dem von Barbara. Und dem von Merli. Mord, Selbstmord und Unfall. Das Dreieck hatte sich perfekt geschlossen. Aber vielleicht war das nur der sichtbare Teil einer viel komplexeren Figur.
Marco Luciani holte seinen Wagen, der einen Kilometer weiter stand, denn bei der Kirche hätte er sowieso keinen Parkplatz gefunden. Innerlich spuckte er Gift und Galle: So durfte die Sache nicht enden. Auch wenn die Autopsie die Überdosis bestätigt hatte, auch wenn es in Nicolas Wohnung keinen Hinweis auf eine andere Person gab – die Vorstellung, dass Nicola auf so dämliche Weise gestorben war, schien ihm inakzeptabel. Irgendjemand musste da die Finger im Spiel gehabt haben, jemand, dem Nicola vertraut hatte. Wenn die Person, die ihn gelinkt hat, eine Frau war, dachte er, dann wird sie jetzt herausfinden wollen, ob wir sie im Verdacht haben.
Er sah sie auf einer Bank, nach vorne gebeugt, den Kopf auf die Hände gestützt, die Ellbogen auf den Oberschenkeln. Sie presste sich ein Taschentuch auf die Lippen, während sie hinter ihrer Sonnenbrille hemmungslos weinte.
Da war er sich sicher, dass sie etwas mit Nicolas Tod zu tun hatte, und einen Moment lang hatte er Angst davor. Er spürte sogar die Versuchung, einfach weiterzugehen, als hätte er sie nicht gesehen. Aber das wäre feige gewesen. Und er musste anfangen, seine Courage ins Spiel zu bringen, wenn er die Rechnungen begleichen und sich dem Schmerz seiner Mutter stellen wollte, der Verstörung der Kollegen und der feigen Arroganz von Nicolas Mörder.
Ich darf vor einer Frau keine Angst haben, auch wenn ich gefährlichen Frauen nicht widerstehen kann, dachte er, und setzte sich neben sie.
|407| »Ich wollte mich verabschieden, habe dich aber nicht mehr gesehen.«
»Ich wollte ein bisschen für mich sein.«
»Entschuldige«, sagte der Kommissar und erhob sich wieder.
Sie hielt ihn am Handgelenk fest. »Nein, ich habe genug geheult. Und das ist nicht der Moment, um zu weinen.«
Marco Luciani setzte sich wieder. Ihre Finger waren warm, und er spürte sein Blut flüssig werden, wie das von San Gennaro am 16. Dezember.
»Er hat dir das Herz gebrochen, oder? Er war so ein Typ. Einer von denen, die von allen geliebt werden.«
Sie fing wieder zu weinen an. »Ach, jetzt, Scheiße …« Sie brauchte ein paar Minuten, um sich wieder zu fangen, die Augen zu trocknen und die Haare zu richten.
»Würdest du mich nach Hause bringen, Commissario? Ich brauche jetzt eine Dusche.«
Sie saß in der Dusche, die Arme um die Knie geschlungen, den Kopf gesenkt. Hin und wieder hielt sie ihr Gesicht in den Wasserstrahl, um die Tränen fortzuspülen und das Schluchzen zu verbergen. Keine Sekunde länger durfte sie in diesem Bett liegen, nicht solange dieser Alptraum neben ihr schlief. Barbara konnte es nicht erwarten, bis er aufwachte und ging. Sie wollte ihr Zimmer, ihre Wohnung wieder für sich haben. Das Bettzeug waschen und auch die Erinnerung an diese Nacht fortspülen. Sie hatte auf Zärtlichkeit gehofft, stattdessen war es grob und brutal gewesen, animalisch. Zum Glück hatte sie es noch rechtzeitig abgebrochen, bevor etwas Irreparables passiert war. Jetzt wusste sie besser denn je, dass sie nur einem Menschen ihr Reinstes schenken konnte: dem Menschen, der sie wirklich liebte, und den sie genauso lieben würde. Sie fühlte sich schmutzig, schuldig, und im Mund hatte sie noch immer den Geschmack ihrer Demütigung.
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Sex ohne Liebe, unnatürlicher Sex. Es schien ihr jetzt unglaublich, dass sie den Mut gehabt hatte, es zu probieren.
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