Kein Schlaf für Commissario Luciani
keine besondere Wirkung mehr auf ihn. Da war keine Genugtuung mehr, aber auch noch kein Schmerz, er hatte aufgehört, ihn zu hassen, aber er hatte auch noch keinen Zugang zu einer möglichen Versöhnung gefunden. Im Moment war sein Vater für ihn nur ein Fremder, für den die Mutter aus unerfindlichen Gründen bittere Tränen vergoss.
Sie schwiegen, während er in der Leere seiner Seele nach irgendeinem Gefühl suchte und das Schluchzen, das die Mutter durchzuckte, sich allmählich legte. Schließlich rief der pfeifende Wasserkessel sie beide wieder in die Realität zurück.
»Entschuldige. Bisher habe ich keine Schwäche gezeigt. In seiner Gegenwart habe ich nie geweint, nur manchmal, wenn er draußen war. Aber heute Abend, da kommst du plötzlich hier hereinspaziert …«
»Sind sie sicher?«
|71| Die Mutter schaute ihn an, als ob sie nicht verstanden hätte.
»Die Ärzte, sind sie sicher, dass man nichts mehr tun kann?«
Sinn für das Praktische, Effizienz, das konnte er ihr bieten, Hilfestellung bei allen bürokratischen Fragen. Behandlung, Bestattung, Papiere, Überschreibungen.
Der Gedanke an die Erbschaft traf ihn wie ein Blitz, den er sofort voller Wut verscheuchte. Niemals. Nichts. Nein. Weder von ihm noch von ihr, wenn es einmal so weit wäre. Er wollte dieses Geld nicht, das man den Leuten mit Betrügereien aus der Tasche gezogen hatte, mit juristischen Spitzfindigkeiten, die Verbechern die gerechte Strafe erspart hatten. Geld, das uns allen geraubt und auf Auslandskonten verschoben worden war, Bestechungsgelder, mit denen man diese Villa, die Hausangestellten und sogar sein eigenes Studium und die ersten Autos finanziert hatte. Dieses Geld hatte ihn in gewisser Weise geprägt und geformt, ohne es wäre er anders geworden, früher weniger arrogant und heute weniger verbittert – insgesamt also besser.
»Erklär mit alles genau. Wer behandelt ihn? Immer noch Martelli?«
»Ja. Die Operation war gut verlaufen, der Arzt meinte, die Lunge sei sauber, aber die Krankheit griff auf den Kehlkopf über und breitete sich dermaßen schnell aus … Er hat schon mehrere Chemotherapie-Zyklen hinter sich, der letzte endete vergangene Woche, aber seitdem ist er so schwach. Gestern Abend hat er zum ersten Mal die Kraft gefunden hinauszugehen, aber er war nicht einmal eine Stunde weg. Er ist müde, sehr müde. Ich weiß nicht, wo er die Energie hernimmt, sich auf den Beinen zu halten.«
»Und was hat die Chemotherapie gebracht?«
Die Mutter schüttelte den Kopf, zwei Tränen rannen ihr über die Wangen, aber sie bewahrte die Fassung.
|72| »Wie viel Zeit bleibt ihm?«
»Wenige Wochen. Vielleicht ein Monat. Aber bis dahin …«
»Ich weiß. Es ist nur eine Verlängerung der Qual.«
Patrizia hob die Schultern und schaute ihrem Sohn in die Augen. In den letzten Jahren, als sie sich mehr oder weniger hinter dem Rücken des Vaters getroffen hatten, hatte sie die hilflose Miene einer alten Frau gehabt, die von ihrem Sohn Fingerzeige für das eigene Verhalten erhoffte; aber jetzt sah sie aus wie früher, als sie ihm noch die Anleitung fürs Leben gab und ihm sagte, was richtig und was falsch war.
»Macht dich das gar nicht betroffen? Tut es dir kein bisschen leid?«
Er senkte den Blick.
»Hör zu. Die Zeit, die ihm bleibt, könnte mehr sein als nur sinnloses Leid. Es könnte eine Gelegenheit sein. Vielleicht gewährt der Herrgott euch beiden eine allerletzte Chance.«
Marco Luciani stellte die Teetasse ab und sprang auf die Füße. Er wollte sofort gehen.
»Marco, setz dich. Sei nicht kindisch.«
Er war nach Camogli gekommen, bereit, ihn zu treffen. Sie hätten wahrscheinlich gestritten, oder vielleicht hätten sie nicht einmal miteinander gesprochen, wie beim letzten Mal, als er in Anwesenheit des Vaters die Mutter besucht hatte. Der Vater hatte ihn betrachtet wie ein abstraktes Gemälde, war hinauf ins Obergeschoss gegangen und nicht wieder heruntergekommen.
Ja, er war darauf vorbereitet gewesen, ihn zu treffen, aber jetzt war seine ganze Selbstsicherheit dahin, jetzt löste die Vorstellung, ihn zu sehen, Panik in ihm aus, und er wollte nur weg, bevor der Vater zurückkam.
»Entschuldige, Mutter. Ich schaffe das nicht, nicht heute.«
|73| Sie stand ebenfalls auf. »Nicht heute?! Wann dann!? Wenn er tot ist? Wirst du dann an sein Grab gehen, um dich mit ihm auszusprechen? Ihn um Vergebung bitten?«
»Ich habe niemanden um Vergebung zu bitten.«
»Ich schon. Dein Vater auch. Und auch du. Jeder von uns hat
Weitere Kostenlose Bücher