Kein Schlaf für Commissario Luciani
Dinge übernommen, und dies bedeutete, den Schmerz zu verdrängen, so weit wie möglich zu unterdrücken.
Giampieri nahm das Angebot eines Kaffees an, denn zum einen war er noch nicht völlig wach, zum anderen wollte er die Frau beschäftigen und so die Anspannung ein wenig lockern.
»Frau Ameri, ich weiß, wir haben Ihnen diese Frage bereits gestellt und Sie haben verneint, aber ich muss noch einmal fragen. Vielleicht ist Ihnen etwas Neues eingefallen …«
»Bitte.«
»Sind Sie sicher, dass Ihre Tochter keine Feinde hatte?«
»Aber was soll sie denn für Feinde gehabt haben? Babi … |77| ich meine, Barbara war ein braves Mädchen, ein fünfundzwanzigjähriges Mädchen, das nur an seine Arbeit dachte. Alle hatten sie gern.«
»Gab es vielleicht jemanden, der ihr nachstellte? Das kommt oft vor, sie war hübsch, und leider gibt es eine Menge Spitzbuben …«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Sie hat nie etwas in der Richtung erwähnt.«
Sie betrachtete ihren Mann, der ebenfalls den Kopf schüttelte, aber er schien auch nicht vollständig zu begreifen, worum es eigentlich ging. »Doch das will nichts heißen, vielleicht hätte sie mir nichts gesagt, damit ich mir keine Sorgen mache. Sie denken an einen … Verrückten? Einen Triebtäter?«
»Nein, gnädige Frau, wir denken an gar nichts, solange wir nicht alle Einzelheiten kennen. Ich glaube nicht, dass Ihre Tochter einem Unbekannten die Tür geöffnet hätte, da die offiziellen Bürozeiten noch nicht begonnen hatten.«
»Sicher nicht. Babi ist vorsichtig, sie weiß, was sie zu tun hat … zu tun hatte.«
Sie hatte in der Gegenwartsform von ihr geredet, hatte sich, mit einer überraschten Miene, sofort korrigiert, die Augen geschlossen und die Faust um ihr Taschentuch gekrampft. Das waren die Momente, die Giampieri am meisten hasste, wenn dieser dünne Vorhang, der aus den Fäden von Erziehung und Pflichtbewusstsein, wenn nicht gar Zynismus, gewoben war, zerriss und man gezwungen war, den Blick in einen finsteren Abgrund zu werfen, in den nie ein warmer Lichtstrahl dringen würde.
Er blieb noch etwa zehn Minuten in der Wohnung, versuchte, die Gewohnheiten des Mädchens und die letzten Tage ihres Lebens zu rekonstruieren.
»Sie führte ein sehr geregeltes Leben, von der Wohnung |78| ging sie ins Büro, vom Büro in die Wohnung. Manchmal ins Fitnessstudio. Und der Freitagabend war immer der Unterstützung von Pater Mariano gewidmet, sie nahm ihre ehrenamtliche Tätigkeit sehr ernst. Am Wochenende fuhren wir normalerweise alle zusammen in unser Haus nach Santo Stefano, wo mein Bruder wohnt. Aber letztes Wochenende wollte sie lieber alleine hierbleiben, sie meinte, sie hätte noch Unterlagen aus dem Büro abzuarbeiten.«
Giampieri nickte: »Und in der letzten Zeit … schien Barbara Ihnen da irgendwie besorgt zu sein? Oder niedergeschlagen?«
»Nein, ganz und gar nicht. Im Gegenteil, sie war gerade erst von der Kreuzfahrt mit ihrem Bekannten zurückgekehrt, wissen Sie, am Anfang waren wir ja nicht so begeistert, man hätte denken können … Aber er ist jedenfalls ein ganz lieber Junge, sie hat ihn uns vorgestellt: Wohlerzogen, fast schon zu schüchtern, und sie ist ein ganz solides Mädchen, war sie immer, fleißig, grundanständig … und dann war sie fünfundzwanzig und, na ja … es war ja auch richtig, dass sie allmählich ein eigenes Leben führte … Wir haben uns gesagt, dass dieser Giacomo ja auch der Richtige sein könnte, sie sagte, sie seien nur gute Freunde, aber ich weiß nicht, ich weiß nicht … das spielt inzwischen keine Rolle mehr. Inzwischen spielt nichts mehr eine Rolle.«
Der Ingenieur wartete, bis die Schluchzer sich gelegt hatten, stellte die Espressotasse auf den Tisch und erhob sich, um sich zu verabschieden. Er wollte schon sagen: Wer auch immer es getan hat, wir kriegen ihn, aber das schien ihm ein Spruch aus einem schlechten Fernsehkrimi. Er verkniff sich auch das: »Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, und sei es auch ein noch so unbedeutendes Detail …«, und beschränkte sich auf: »Danke. Wir halten Sie auf dem Laufenden.«
|79| Als er gegen elf ins Genueser Kommissariat zurückkam, hatte Calabrò gerade mit Giacomo Carrisi, genannt Jacky, geredet. Dieser arbeitete in Voghera in einer Dienstleistungsgesellschaft und hatte am Montagabend aus dem Fernsehen von dem Mord erfahren. Er war immer noch völlig verstört. Auf die Frage, warum er sich nicht bei den Ermittlern gemeldet habe, hatte er geantwortet, er sei mit
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