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Kein Schlaf für Commissario Luciani

Kein Schlaf für Commissario Luciani

Titel: Kein Schlaf für Commissario Luciani Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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geblieben. Wie auch immer, er war ein ziemliches Risiko eingegangen, denn um die Zeit waren in jedem Fall Leute unterwegs, und auch der Anwalt konnte jeden Moment eintreffen, was ja geschehen war, wenn auch ein paar Minuten zu spät.
    Marco Luciani öffnete sein Notizbuch und schrieb in Druckbuchstaben: »Vorsatz«. Er unterstrich es zweimal, aber dann kam ihm diese Entschiedenheit schon wieder übertrieben vor: Wenn der Täter so entschlossen gewesen war, warum hatte er dann ein röchelndes, halbtotes Opfer zurückgelassen, statt das Werk zu beenden? Wenn früher Hilfe gekommen wäre, dann wäre Barbara vielleicht gerettet |182| worden, jedenfalls hätte sie den Namen des Täters nennen können. Der Angreifer musste auf jeden Fall erschrocken sein und die Flucht ergriffen haben, ohne zu kontrollieren, ob sein Opfer tatsächlich tot war. Luciani riss das Blatt ab, knüllte es zusammen, schrieb erneut »Vorsatz« und setzte diesmal ein Fragezeichen dahinter. Dann schrieb er: »Kein geübter Täter«, und unterstrich es einmal.
    Er trank einige Schlucke Tee und betrachtete den Dampf, der aus der Tasse aufstieg, als suchte er darin einen Fingerzeig.
    Sicher oder zumindest sehr wahrscheinlich war überdies, dass Barbara den Mörder gekannt hatte. Theoretisch hätte sie jedermann die Tür öffnen können, aber da sie allein im Büro war, außerhalb der Sprechzeiten, musste ihr der Besuch eines Unbekannten verdächtig vorkommen. Und gegenüber einem unbekannten Menschen, der erregt war und sie bedrohte, hätte sie wohl irgendwie versucht, Hilfe zu rufen, sich zu verteidigen. Stattdessen war Barbara höchstwahrscheinlich nicht einmal vom Schreibtisch aufgestanden, sie erwartete jemanden, und als dieser Jemand klingelte, öffnete sie ihm mit dem Summer die Tür. Sie mussten gestritten haben, vielleicht hatte der Täter ihr eine letzte Chance gegeben, ohne dass sie es ahnte, aber Barbara hatte den Fehler gemacht, seine Gefährlichkeit zu unterschätzen. Der erste Schlag hatte sie kalt erwischt, und als sie erst einmal am Boden lag, gab es kein Entrinnen mehr.
    Marco Luciani spann diesen Faden weiter. Wenn der Mörder ein Bekannter von ihr war, dann schränkte das den Täterkreis natürlich ein. Die Motive konnten vielfältig sein: das Ende einer Liebesbeziehung, eine Beziehung, die nie begonnen hatte, aber es konnten auch finanzielle Gründe sein.
    |183| Bei dieser Art von Mord gab es jedenfalls immer ein logisches Motiv. Wenn es keinen Verdächtigenkreis gab und man nicht jedem daraus ein Motiv zuordnen konnte, dann war die einzige Möglichkeit, dass man das Motiv des Motivs suchte, das heißt das, was das Opfer getan hatte, um das Motiv auszulösen. Dieses Thema konnte man bei den Verwandten nicht anschneiden, weil diese meinten, das sei eine Art Vorwurf an das Opfer, man wolle damit den Spieß umdrehen. Was auch immer Barbara getan hatte – vorausgesetzt sie hatte überhaupt etwas getan –, es konnte auf keinen Fall ihr grausames Ende rechtfertigen. Und in solchen Fällen hatte Marco Luciani Mühe zu vermitteln, dass man niemanden beschuldigen wollte, dass man nur einen simplen Kausalzusammenhang suchte, nichts anderes. Und dass manchmal im kranken Hirn eines Mörders ein bestimmter Blick reichte, um den tödlichen Mechanismus auszulösen, und dieser Blick bedeutete sicher keine Schuld, konnte aber der Schlüssel sein, um das Geschehene zu erklären.
    Er kam zu den Seiten mit dem Autopsiebericht und las, dass der erste Schlag mitten ins Gesicht geführt worden war, mit unerhörter Wucht. Folglich hatte Barbara dem Mörder nicht den Rücken zugekehrt, ein Zeichen, dass sie ihm zwar traute, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Viel änderte sich dadurch allerdings nicht. Ein knallharter Faustschlag, vielleicht mit Hilfe eines Gegenstands geführt, hatte sie wie ein Lamm auf die Opferbank hingestreckt. Dann kam das Gemetzel.
    Er las rasch Doktor Vassallos Bemerkungen zum Mageninhalt des Opfers, und als er zur Verletzung der Schamgegend kam, fand er bestätigt, was zur Presse durchgesickert war, nämlich dass das Mädchen Jungfrau war. Damit fiel die Prostituierten-Szene weg, in die manchmal auch »normale« Mädchen schlitterten, Mädchen mit Familie und einem regulären Arbeitsverhältnis im Rücken.
    |184| »Fünfundzwanzig Jahre und noch Jungfrau«, murmelte er. Nicht, dass man sich dafür hätte schämen müssen, und vielleicht war das nicht einmal so ungewöhnlich, aber die Vorstellung, die er sich von der sexuellen

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