Kein Schlaf für Commissario Luciani
er heilfroh, dass er fast zwei Meter groß war. Er kam an sein Auto, das er ein Stück hinter dem Tor geparkt hatte, startete den Motor und fuhr, bis er außer Sichtweite war. Dann hielt er an und schaltete den Motor aus.
Er leerte seine Taschen und warf den ganzen Papierkram auf den Sitz, wobei er sich schämte, als hätte er sich in der Kirche aus dem Klingelbeutel bedient. Oder noch Schlimmeres getan. Er fühlte sich wie ein Paparazzi, der im Müll der Diven wühlt, um hinter irgendeine schlüpfrige Geschichte zu kommen: Kaum waren die Eltern gegangen, hatte er den Inhalt des Papierkorbs in seine Taschen gesteckt. Schade nur, dass er nicht genügend Zeit gehabt hatte, um in Ruhe das Bücherregal zu durchsuchen.
Er breitete die zusammengeknüllten und zerknitterten Zettel aus und strich sie vorsichtig mit der Handfläche |221| glatt. Wenn wir in einem Mickey-Maus-Comic wären, dann wäre das hier der Durchbruch, dachte er. Ich würde ein Passwort für den Computer finden oder den Namen eines Schiffes, das demnächst in See sticht, oder ein leeres Blatt von einem Notizblock, auf dem allerdings, wenn man es mit einem Bleistift schraffiert, ein Name sichtbar wird, den ein Stift auf das Blatt darüber geschrieben hat, und zwar der Namen des Mörders. Aber dies war keine Mickey-Maus-Geschichte, und Barbara Ameri hatte keine Leichen im Papierkorb. Nur Kassenbons und den Beipackzettel eines Medikaments, eine missratene Zeichnung, einige Papiertaschentücher, eine Einkaufsliste … Er knüllte alles wieder zusammen und steckte es in den Stauraum der Autotür. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, den Papierkorb zu plündern; aber selbst wenn Barbaras Mutter es merken würde, würde sie diesem Arschloch von Giampieri die Schuld geben. Er seufzte, wusste nicht, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte, dann holte er den Zettel hervor, den er auf der Rückseite des Fotos gefunden hatte. Man erkannte die Silhouette einer Frau, die Saxophon spielte und einer anderen, die mit einem Glas Wein an einem Tisch saß und zuhörte.
Er kam nach Hause, zerteilte einen Salat und wässerte ihn dann in einer Plastikschüssel. Er bemerkte die Dreckkrusten an den Küchenhandtüchern und steckte sie in die Waschmaschine, und weil er schon dabei war, sammelte er auch die Wäscheknäuel und Hemden auf, die sich seit mindestens einer Woche im Schlafzimmer auf Stuhl und Boden türmten. Er war versucht, die Laken zu wechseln, brachte es aber nicht übers Herz, weil sie, wenn schon nicht den Duft, so zumindest die Erinnerung an den letzten Sex mit Sofia Lanni bewahrten.
Als er einen Fensterladen öffnen wollte, um ein bisschen |222| Licht und Luft hereinzulassen, hätte er fast einen Bauarbeiter erwischt, der ein Gerüst montierte.
»Hey, passen Sie auf!«
»Verzeihung. Ist es schon so weit?«
»Heute kommen wir bis zum Dach. Sie werden eingebaut sein. Wie wollen Sie Ihre Läden denn haben? Offen oder geschlossen?«
Der Mann stand auf einer Holzbohle, die auf zwei Eisenstangen lag, trug weder Sicherungsgurt noch Helm und zog weitere Holzbohlen an einem Seil hoch. Marco Luciani spürte, wie das Blut aus seinem Herzen wich, die Schultern sich Richtung Abgrund neigten, als würden sie magnetisch angezogen, und so sprang er schnell ein Stück zurück.
»Geschlossen. Ich will sie geschlossen haben«, sagte er, während ihm ein Schweißtropfen an der rechten Schläfe herabrann.
Der andere schaute ihn komisch an, schloss die Läden, und im Zimmer war es plötzlich wieder stockfinster.
»Auch heute siehst du blass aus, Commissario.«
»Nenn mich nicht mehr so, Pasquale. Ich habe es dir gesagt, ich scheide aus, das heißt, praktisch bin ich schon ausgeschieden.«
»Ach, was redest du. Einmal Kommissar, immer Kommissar. Wie die Abgeordneten und die Präsidenten. Das sind Ämter auf Lebenszeit.«
»Jedenfalls habe ich auch heute Nacht nicht geschlafen. Müllabfuhr, Motorräder, LKW, und jetzt auch noch dieses verfluchte Restaurant.«
»Ich schlafe wie ein Engel, Commissario. Und wenn es unbedingt sein muss, nehme ich eine halbe Pille, manchmal auch eine ganze – sag’s bloß nicht meiner Frau –, und dann wecken mich nicht einmal Mörsergranaten.«
|223| »Die müsste ich auch nehmen. Aber ich traue Medikamenten nicht so recht.«
Der Neapolitaner lächelte wissend.
»Mein Vater und auch mein Opa tranken sich mit zwei Litern Wein in einen bleiernen Schlaf. Was ist dagegen schon eine Pille?«
»Es würde reichen, wenn die
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