Kein Sterbenswort - Kein Sterbenswort - Tell No One
kurzen, heftigen Brennen auf der Haut erledigt gewesen. TJ musste über Nacht im Krankenhaus bleiben. Als ich ankam, hing er schon am Tropf. Hämophilie wird mit Blutpräparaten wie Kryopräzipitate oder gefrorenem Blutplasma behandelt. Ich hatte eine Schwester beauftragt, sie ihm sofort zu verabreichen.
Wie bereits erwähnt war ich Tyrese vor sechs Jahren zum ersten Mal begegnet, als er mit Handschellen gefesselt im Krankenhausflur wüste Obszönitäten brüllte. Eine Stunde zuvor war er mit seinem neun Monate alten Sohn TJ in die Notaufnahme gestürmt. Ich war zwar auch da, aber nicht für die Notaufnahme zuständig. Der Dienst habende Arzt kümmerte sich um TJ.
Der Junge war lethargisch und reagierte kaum auf seine Umgebung. Er atmete flach. Tyrese, der sich laut Akte unberechenbar verhalten haben soll (wie, fragte ich mich, sollte ein Vater sich verhalten, der sein krankes Kind gerade in die Notaufnahme eines Krankenhauses gebracht hat), erklärte dem Dienst habenden Arzt, dass es dem Jungen von Stunde zu Stunde schlechter gegangen sei. Der Dienst habende Arzt warf der Schwester einen vielsagenden Blick zu. Die Schwester nickte und ging telefonieren. Für alle Fälle.
Eine Fundoskopie ergab, dass das Kind beidseits multiple retinale Einblutungen hatte, das heißt, hinten in beiden Augen waren die Blutgefäße geplatzt. Als der Arzt diese Fakten zusammenfügte - Netzhautblutungen, schwere Lethargie und, na ja, dieser Vater, stellte er seine Diagnose:
Schütteltrauma. Das so genannte Shaken-Baby-Syndrom.
Der bewaffnete Sicherheitsdienst rückte an. Sie legten Tyrese Handschellen an, und in diesem Augenblick hörte ich die wüsten Flüche. Ich ging um die Ecke, um nachzusehen, was los war. Zwei Polizisten vom NYPD trafen ein. Mit ihnen eine erschöpfte Frau vom Kinderschutzzentrum. Tyrese flehte, man möge ihm glauben. Alle schüttelten in Wohin-soll-das-noch-alles-führen-Manier den Kopf.
Ich hatte im Krankenhaus schon jede Menge solcher Szenen erlebt. Das hier war noch relativ harmlos. Ich hatte dreijährige Mädchen mit Geschlechtskrankheiten behandelt. Einmal habe ich bei einem vierjährigen Jungen mit inneren Blutungen einen Vergewaltigungstest durchgeführt. In diesen wie allen anderen Fällen von Kindsmissbrauch, mit denen ich zu tun hatte, war der Täter immer entweder ein Familienmitglied oder der gerade aktuelle Freund der Mutter gewesen.
Der böse Mann lauert nicht auf dem Spielplatz, Kinder. Er wohnt bei euch im Haus.
Ich wusste auch - und diese Statistik verblüfft mich immer wieder -, dass über 95 Prozent der ernsthaften Schädel-Hirn-Verletzungen bei Kindern auf Kindsmisshandlung zurückzuführen waren. Damit standen die Chancen sehr gut - oder schlecht, kam ganz darauf an, wie man es betrachtete -, dass Tyrese seinen Sohn misshandelt hatte.
Wir hören in der Notaufnahme alle möglichen Ausreden. Das Baby ist vom Sofa gefallen. Es hat die Backofentür auf den Kopf bekommen. Sein großer Bruder hat ein Spielzeug auf ihn geworfen. Wenn man lange genug hier arbeitet, wird man zynischer als ein im Dienst ergrauter Großstadtpolizist. Eigentlich verkraften gesunde Kinder solche Unfälle nämlich ziemlich gut. Es ist äußerst selten, dass ein Kind allein durch einen Sturz vom Sofa Netzhautblutungen erleidet.
Mit der Diagnose Kindsmisshandlung konnte ich leben. Jedenfalls auf den ersten Blick.
Doch irgendwie kam es mir seltsam vor, wie Tyrese um Hilfe flehte. Nicht, dass ich ihn für unschuldig hielt. Auch ich urteile gelegentlich vorschnell aufgrund der äußeren Erscheinung - oder, um es in einen politisch korrekteren Begriff zu fassen, des ethnischen Täterprofils. Das tun wir alle. Wenn Sie die Straße überqueren, um einer Gang schwarzer Jugendlicher aus dem Weg zu gehen, haben Sie ein ethnisches Täterprofil im Kopf; wenn Sie nicht über die Straße gehen, weil Sie Angst haben, als Rassist dazustehen, haben Sie ein ethnisches Täterprofil im Kopf; wenn Sie die Gang sehen und sich nichts dabei denken, kommen Sie von einem Planeten, auf dem ich noch nie gewesen bin.
Der Grund für mein Stutzen war eine bloße Parallele. Während meines turnusmäßigen Wechsels nach Short Hills, New Jersey, einen wohlhabenden Vorort, war mir ein ganz ähnlicher Fall untergekommen. Eine weiße Mutter mit ihrem weißen Ehemann, beide tadellos gekleidet, waren in einem Range Rover mit allen Extras vorgefahren und hatten ihre sechs Monate alte Tochter in die Notaufnahme gebracht. Die Tochter, ihr drittes Kind,
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