Kein zurueck mehr
Finger und beobachte, wie das Blut zurückweicht und die Haut ganz weiß wird.
Er holt tief Luft. »Du musst zuerst denken, dann handeln, okay? Ich bin nicht bereit, einen Teenager zu erziehen. Ich kann keine bessere Version eines Vaters für dich sein.«
»Ich brauche keinen Vater.« Ich brauche dich .
Aber das wird alles keine Rolle mehr spielen, wenn ich ihm erzähle, dass ich Mom angerufen habe. Es hat nie eine Rolle gespielt. Er wird genauso schnell sein wie mein Dad – schneller sogar – und mich in hohem Bogen rausschmeißen. Warum hab ich mir je etwas anderes eingebildet?
» Er wird dir helfen «, hat meine Mom versprochen.
Ja, alles klar.
Meine Finger ballen sich zu einer Faust. Ich fange an, mir vorzustellen, wie ich Christian erdrossele. Ich will meine Hände um seinen Hals legen; ich kann seine Haut zwischen meinen Fingern spüren. Ich will ihm eine reinhauen. Die Kontrolle entgleitet mir. Meine Faust saust durch die Luft, aber ich entscheide mich für den Tisch und nicht für Christians Gesicht. Er zuckt zusammen.
»Scheiße«, sagt Christian. Er fährt sich mit der Hand durchs Haar, einmal und dann zweimal. »Tut mir leid. Du wusstest ja nicht, dass du sie nicht kontaktieren solltest.«
»Herrgott noch mal, jetzt entschuldige du dich doch nicht bei mir. Ich sollte mich bei deinem Tisch entschuldigen.« Ich presse meine Zähne fest zusammen.
Warum machen die Leute das immer? Entschuldigen sich, wenn ich die Beherrschung verliere.
»Mein Tisch wird’s überleben.« Er macht eine Pause. »So was darfst du nicht machen, okay? Das ist einfach zu unheimlich. Du hast eben genauso ausgesehen wie Dad.«
Jetzt ist es, als hätte er mir einen Schlag versetzt. Ich bekomme keine Luft mehr. Kann kein Wort herausbringen. Ich lege die Kreditkarte behutsam auf den Tisch. Atme langsam ein. Atme langsam aus.
»Sag mir einfach, was Sache ist«, stoße ich schließlich hervor. »Was darf ich denn tun?«
»Also gut. E-Mail ist wahrscheinlich okay.«
»Er weiß gar nicht, dass sie eine Adresse hat«, sage ich. »Als ich über die Schule eine bekommen habe, hab ich sie ihr gegeben, hab sie die Adresse benutzen lassen, als wäre es ihre eigene.«
»Gut, dann brauchst du sie ja nicht anzurufen.«
Soll ich’s ihm sagen? Wird das mein Mantra sein, wenn ich hier wohne? Soll ich’s ihm sagen? Soll ich’s ihm sagen? Bis jetzt hab ich noch nicht erwähnt, dass Mom quasi auf dem Weg zu uns ist; ich hab ihm noch nicht von der Nacht meiner Abfahrt erzählt, von Starbucks, und nun das.
Ich beschließe, den Telefonanruf zu vergessen. Ich wette, die Nummer würde sowieso als »unbekannt« durchkommen, so paranoid wie Christian ist.
Die restlichen Regeln sind easy: Tue nichts, was das Sozialamt auf den Plan ruft; geh zur Schule. Nach jahrelanger WG-Erfahrung weiß man, so sagt Christian, dass Mitbewohner mindestens zwei von drei Beiträgen leisten müssen: emotionale Unterstützung, finanzielle Unterstützung und Hausarbeit.
Kein Problem , denke ich. Ich kann putzen, kochen lernen. Das müsste doch reichen . Doch dann sagt Christian: »Du kannst also im Haushalt mithelfen und dann suchen wir dir einen Job.«
Die Tür, die reale Tür aus Holz, durch die ich mich letzte Nacht hineingeschlängelt habe, sicher, die hat er für mich geöffnet. Aber alles andere ist verschlossen.
Er streckt die Hand aus. »Abgemacht?«
»Klar, okay«, sage ich.
Er sieht mich scharf an.
»Ich meine«, sage ich, »kein Problem.«
Ich schüttele seine Hand. Ich sollte froh sein, dass ich eine Bleibe habe. Stattdessen habe ich das Gefühl, meinen Bruder ein zweites Mal verloren zu haben.
Kapitel 7
Willkommen in meinem neuen Leben. Teil eins.
Es ist komplizierter, als man denkt, einen neuen Wohnsitz anzunehmen. Die paar Male, die wir umgezogen sind, haben meine Eltern immer so getan, als wäre das alles ganz einfach. Auch wenn ich mich noch besonders gut an den Umzug nach Christians Flucht erinnere, habe ich doch nicht richtig mitbekommen, wie sie eine neue Schule gesucht und Leistungsnachweise beantragt hatten, Übertrittszeugnisse, Kurszulassungen, Geburtsurkunden. Für all das muss man ganz schön blechen, besonders wenn man unter achtzehn ist und ohne Eltern oder Erziehungsberechtigten nichts unterschreiben kann. Und das ist erst die Schule. Wehe, man will sein Auto ummelden, ein neues Nummernschild beantragen und eine Versicherung abschließen (was für einen männlichen Jugendlichen viel zu viel kostet, egal, ob er vielleicht als
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