Keine Angst
gewährte ihr weitere zehn Minuten, dann bestand ich auf Abbruch des Manövers.
Sie machte keinen Hehl aus ihrer Verwirrung.
»Er hätte kommen müssen«, sagte sie, als wir zu ihrem Zimmer rübergingen. »Ich weiß, daß er hier ist.«
»Mein Gott, Gretchen! Geben Sie denn niemals auf?«
Sie öffnete die Tür und sah mich an.
»Nein«, sagte sie. »Nie.«
Ich erkannte in ihren Augen, was auch den kleinen Jungen in ihrer Geschichte geprägt hatte: das verzweifelte Verlangen nach Anerkennung. Was mochte Gretchen Baselitz widerfahren sein, daß sie so geworden war? Welches war ihr Schicksal?
Die Frage hatte keine Bedeutung mehr. Ich wußte jetzt, sie würde nicht aufgeben. Gretchen würde weiterjagen, bis sie gewonnen hätte. Und gewinnen würde sie.
»Kommen Sie«, sagte ich und nahm sie sanft beim Arm. »Legen Sie sich hin. Ich gebe Ihnen Ihre Medikamente.«
»Scheißmedikamente«, murrte sie und kroch unter die Bettdecke.
»Ende der Vorstellung.« Ich lächelte. »Jetzt geht’s nur noch darum, daß Sie möglichst schnell gesund werden.«
Sie murrte weiter, nahm aber die Tabletten, die ich ihr gab, und vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen.
Ich konnte nicht anders. Ich beugte mich zu ihr herab und gab ihr einen Kuß auf die Wange.
»Schlafen Sie gut«, sagte ich leise.
Sie nickte und schloß die Augen.
Ich betrachtete sie.
Es half alles nichts. Sie hatte schon viel zuviel herausgefunden. Ich mußte handeln, bevor sie die ganze Wahrheit begriff und die Polizei verständigte.
Ihr war nicht aufgefallen, daß es andere Medikamente waren als sonst. Placebos, die keinerlei Wirkung taten. In wenigen Stunden, noch vor sechs Uhr früh, wenn die Tagschwestern zum Bettenmachen kämen, würde ich noch einmal ihr Zimmer betreten und ihr Kalium in die Vene injizieren. Das Ergebnis ist sofortiger Herzstillstand. Jeder Versuch einer Reanimation würde scheitern. Kalium wirkt kardiotoxisch. Ganz gleich, welches Medikament man ihr geben würde, es würde nichts nützen. Tragisch, aber so kann’s gehen.
Auf dem Computertisch neben ihrem Bett stapelten sich die falschen Faxe, die ich angefertigt hatte. Wie sehr hatte sie sich darüber gefreut, ohne zu ahnen, daß keines von den Dingern wirklich rausgegangen war.
Sie würde es nie erfahren. Nie herausfinden, daß ich die Chirurgie jenes Krankenhauses geleitet hatte, in dem der zweite Mord passiert war, bevor man mir den Posten hier angeboten hatte. Und wer tatsächlich im Waschraum gewesen war, um sich in der heißen Sommernacht ein bißchen frisch zu machen auf seinem Kontrollgang durch die Flure.
Gretchen Baselitz …
In stummer Bewunderung fragte ich mich, wie es ihr gelungen war, in so kurzer Zeit so viel über mich herauszufinden, um mir am Ende mein Leben zu erzählen, als sei sie selbst dabeigewesen.
Ich würde sie vermissen.
Die Narben an meiner Schulter begannen zu jucken.
Schulfreundinnen
Gesetzt den Fall, ein Leben ohne Liebe. Was täten Sie, Frau Stone?
Sharon Stone schlägt vor, Tabletten zu nehmen. So viele, daß es reicht. Andererseits, in einer Pfütze von Erbrochenem gefunden zu werden, schlecht für’s Image. Erhängen? Großer Gott, bloß nicht erhängen, dann vielleicht doch lieber die Nummer mit den Tabletten.
Leicht angewidert blättert Cora weiter. Kevin Costner vom Leben enttäuscht. Dann plötzlich Romy Schneider, ein kurzes Dasein voller Sehnsucht. Eva Jaeggi, Professorin für Psychologie, elaboriert über das Romy-Syndrom. Cora wird schlecht. Sie klappt die Cosmopolitan zu und wirft sie auf den Haufen Zeitschriften, die unordentlich über den Glastisch verteilt liegen. Sie will überhaupt nichts mehr lesen. Sie will nur endlich drankommen.
Das Wartezimmer ist inzwischen leer, sie ist die letzte. In ihrem Kiefer wummert der Schmerz. Sie weiß, daß der Backenzahn überfällig ist. Und sie weiß, daß sie Angst hat vor dem Zahnarzt und noch mehr Angst vor der Spritze und um ihre Mundwinkel, die noch tagelang wundgescheuert sein werden vom Rumfuhrwerken mit dem Bohrer. Cora liebt ihren Mund. Sie liebt überhaupt jeden Quadratmillimeter ihres Gesichts. Wer will schon ein Model, das sich nicht selber anbetet?
Fahrig kramt sie in ihrer Handtasche nach dem Spiegel und zieht die Lippen zurück. Wunderschöne, ebenmäßige Zähne. Lächeln. Okay, das klappt.
Sie öffnet den Mund ein Stück weiter und verdreht Spiegel und Augen. Wenn der Zahn bloß nicht raus muß! Wird man das Loch sehen, wenn sie lacht? Ihre Schneidezähne glänzen von
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