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Keine Angst

Keine Angst

Titel: Keine Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Paranoiker wie die Romanfigur Hannibal Lecter sind, wenn sie nicht gerade schlachten und verstümmeln, die Kultiviertheit in Person. Chaos und Ordnung sind in gleicher Weise übersteigert vorhanden. Vertrauen Sie also nicht zu sehr auf ihre Menschenkenntnis. Manche dieser Psychos sind Meister der Verstellung. Der Händeabschneider könnte ein freundlicher Mensch von hoher Bildung sein, der vernünftige Ansichten vertritt und über ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden verfügt. Er hat sich perfekt unter Kontrolle. Bis er innerlich umkippt. Unbedeutende Signale genügen.«
    Sie wandte ihren Blick wieder hinaus auf den Flur.
    »Könnten das rote Haare sein?« fragte ich.
    »Zwölf Uhr«, murmelte sie.
    Der Flur blieb leer. Natürlich blieb er leer.
    »Es sind rote Haare«, bemerkte sie. »Es gibt einen be-stimmten Typus Frau, den er sich auserkoren hat, weil dieser Typus ihn auserkoren hat, nämlich, um geboren zu werden.«
    Ich starrte sie an.
    »Sie meinen, er ermordet seine Mutter?«
    »Immer wieder aufs Neue. Ja. Genau.«
    »Aber warum? Und wozu die Verstümmelungen?«
    »Ich schätze, sie verweigerte ihm ihre Liebe. Nehmen wir an, sie hat ihm das Gefühl vermittelt, ein mißratenes Stück Scheiße zu sein, irgend etwas in der Art. Der Junge hat sich unablässig um ihre Liebe bemüht, aber es hagelte Ver-wünschungen und Schläge. Warum tust du nicht, was Mama sagt? Mama hat dich nicht mehr lieb. Gott hat dich nicht mehr lieb. Versager! Mißgeburt! Gefühlloses Ungeheuer! Wissen Sie, was das in einem Kind auslösen kann?«
    Ich schwieg und sah hinaus auf den Flur.
    »Er will ja nichts anderes als die Liebe der Mutter«, fuhr sie fort. »Je mehr sie ihn quält und demütigt, desto größer wird der Wunsch, es ihr recht zu machen. Ist sie versöhnlich gestimmt, tut der Junge alles, um diesen Zustand zu erhalten, aber leider hält er nie sehr lange. Wissen Sie, es gibt da eine interessante Passage in Orwells 1984. Der Folterer nimmt das Opfer in den Arm, und der Gefolterte empfindet in diesem Moment für seinen Peiniger echte Liebe.«
    »Ich erinnere mich an die Stelle.«
    »Um sich nicht einzugestehen, daß die Mutter ihn nicht liebt, reduziert das Kind die Schläge und die Be-schimpfungen auf Hände und Mund. Die Mutter ist gut. Nur ihre Hände und ihr Mund sind schlecht. Die Hände schlagen, der Mund schimpft. Ohne Mund und Hände würde funk-tionieren, was die Kirche der immanenten Liebe impliziert, und die Prophezeiung des Zeichens würde sich erfüllen.«
    »Weiter.«
    »Interessiert es Sie wirklich?«
    »Ich bin … verblüfft. Ganz ehrlich.«
    »Also gut. Wir nehmen an, unser Mörder war dieses Kind. Der Vater spielte entweder keine große Rolle oder war gar nicht präsent. Hineingeboren in die Kirche der immanenten Liebe, vertreten durch eine fanatische, alles überstrahlende Mutter, wird ihm das Zeichen auf den Oberkörper tätowiert, Schulter oder Rücken, denke ich. Der Junge erlebt dieses Symbol als ständige Verpflichtung und zugleich Verheißung, die aber nicht eintritt. Ein Widerspruch, den er zu lösen versucht, indem er mit allen Mitteln um Anerkennung ringt, um der Mutter zu gefallen. Je mehr sie ihn demütigt und von sich stößt, desto größer werden seine Bemühungen. Der Junge leidet Höllenqualen unter dieser Ablehnung, er zermartert sich das Hirn darüber, was er tun kann, um endlich geliebt zu werden.« Sie machte eine Pause. »Er entwickelt sich zum Musterschüler, bemüht sich um einen Studienplatz, will Arzt werden, ein berühmter Chirurg meinetwegen. Aber dann, bevor er das Ruder herumreißen und die Mutter für sich einnehmen kann, stirbt sie. Eine rothaarige Frau Ende vierzig, schlank und gutaussehend, woran auch immer. Sie ist tot, ohne daß die Geschichte zu einem glücklichen Abschluß gekommen wäre. Unser Student macht Karriere, aber tief im Innern quälen ihn die Demütigungen weiter, und er …«
    »… beginnt Frauen umzubringen, die seine Mutter sein könnten«, ergänzte ich. »Nicht, weil er sie haßt, sondern weil er sie verändern will. Ohne Hände und Lippen ist Mama wieder lieb. Das Zeichen der Liebe macht also Sinn.«
    »Ja«, sagte sie. »Genau so.«
    »Hm. Interessante Theorie.« Ich schüttelte den Kopf und deutete hinaus auf den Flur. »Aber ich fürchte, es wird eine Theorie bleiben. Schauen Sie auf die Uhr.«
    Mittlerweile war es viertel nach zwölf.
    »Warten wir noch«, sagte Gretchen, aber die Enttäuschung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
    Ich

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