Keine Gnade
Klingeln nach dem Telefon. »Es könnte das Krankenhaus wegen meiner Mutter sein.«
»Hallo? Ja. Ja. Und Ihr Name ist?« Sami deckte das Mikrofon des Telefonhörers ab. »Es ist Ricardo Menendez?«
»Wer?« Al griff nach dem Hörer.
Während Al still zuhörte, sah Sami, dass er blass wurde. Seine Hand begann zu zittern, und er lieà fast den Hörer fallen. »Welches Krankenhaus?«, wollte Al wissen. »Geben Sie mir Ihre Handynummer.« Al fasste an Sami vorbei, schnappte sich einen Stift und einen Block vom Nachttisch. Er kritzelte hastig. »Ich danke Ihnen, Ricardo. Ich versuche so schnell wie möglich zu kommen.«
Al warf das Telefon aufs Bett. »Das war der Freund meiner Schwester aus Rio.« Er konnte kaum sprechen. »Aleta hatte einen FrontalzusammenstoÃ. Sie liegt auf der InÂtensivstation in Rio.« Als Augen füllten sich mit Tränen. »Sie liegt im Koma, und sie wissen nicht, ob sie es überleben wird.«
Sami sprang aus dem Bett und legte ihre Arme um Al. »Es tut mir so unendlich leid.« Doch es gab keine Worte, die ihn trösten konnten.
»Ich muss so schnell wie möglich dorthin.«
»Ich fahre den PC hoch und suche nach Flugtickets«, bot sie ihm an.
»Mach uns einen Kaffee«, erwiderte Al, »das wird eine lange Nacht.«
Julian musste sich heute für sein abendliches Ziel nicht besonders fein machen. Er zog sich eine modisch verschlissene Jeans und ein pinkfarbenes Poloshirt über. Mit einem Paar schwarzer Sneakers von Converse rundete er das Ganze ab und legte sich noch eine dicke Goldkette um den Hals. In Henryâs Hideaway war er noch nie zuvor gewesen â warum sollte er auch eine Schwulenbar aufsuchen? Doch heute Nacht hatte er etwas vor und war sich sicher, dass das PubÂlikum seinen Erwartungen entsprechen würde. Die Bar lag mitten in Hillcrest, einem Bezirk von San Diego, der berühmt war für seine angesagten Lokale, schicken Boutiquen und dafür, dass er ein Hotspot für die Schwulengemeinde war. Henryâs war der heiÃeste neue Pub in diesem Bezirk.
Normalerweise trug Julian sein Haar ordentlich mit Scheitel und nur einem Hauch von Gel. Doch da er in der Menge nicht auffallen wollte, entschloss er sich, es für heute Abend mit Bed Head einzuschmieren und es wild wirken zu lassen. Er war überzeugt, dass niemand seiner Freunde oder Kollegen jemals einen Ort wie Henryâs aufsuchen würde, weswegen er sich bei seinem verdeckten Vorhaben absolut sicher war, dass ihn niemand von Wichtigkeit dabei entÂdecken würde. Weil er keine Lust darauf hatte, seiner Frau zu erklären, warum er einen Mietwagen brauchte, hatte er ihn hinten bei einem Food Mart geparkt, nur einige Blocks vom Henryâs entfernt.
Julian stand vor dem Spiegel und betrachtete sich ein letztes Mal, bevor er das Haus verlieÃ. »Perfekt«, flüsterte er. Mehr als zufrieden mit seinem Aussehen machte er sich auf den Weg zu Henryâs und war zuversichtlich, dass er heute Nacht jemandes Herz stehlen würde.
Sami hatte keine Ahnung, wie sie Al trösten sollte, sie hielt nur Abstand, blieb aber in der Nähe, falls er reden wollte. Und sie passte auf, dass er genügend Kaffee hatte. Seit er den Anruf von Ricardo erhalten hatte, war Al im Internet und suchte nach den schnellsten Verbindungen nach Rio, hatte aber noch keinen Laut von sich gegeben. Aleta war Als einzige Verwandte. Und obwohl er seine Schwester seit ÂJahren nicht gesehen hatte, so telefonierten sie doch alle paar Monate miteinander und blieben über kurze E-Mails in Kontakt. Seit ewigen Zeiten hatte er sie besuchen wollen, aber jedes Mal, wenn er es ernsthaft in Erwägung zog, war er entweder knietief in einer Mordermittlung, oder Aleta war mit ihrem reichen Freund auf Weltreise.
»Mist«, murmelte Al, schlug seinen Laptop zu und stand auf, wobei er den Stuhl so heftig zurückschob, dass er nach hinten umfiel. »Von einem späten Nachtflug heute einmal abgesehen, gibt es vor Montag nicht einen verdammten Flug von hier.«
»Dann buche den Nachtflug«, schlug Sami vor.
»Der kostet zweitausendzweihundert Dollar. Ich besitze fünfhundert Dollar und habe bei Visa nicht genügend Kreditrahmen.«
»Dann nimm meine Kreditkarte.«
»Ich hasse es, mir Geld von dir zu borgen. Das hier ist dein Haus und deine Einrichtung. Und ich komme nur für Lebensmittel und Nebenkosten
Weitere Kostenlose Bücher