Keine große Affäre
Eindruck, daß sich in den zehn
Jahren, die sie im Ausland verbracht hatte, ein Klima der Angst entwickelt
hatte. Jeder fürchtete um seinen Arbeitsplatz und lebte daher ständig mit einer
Art unterschwelliger Panik. Es erschien ihr seltsam, daß Lehrer, die sie früher
für Autoritätspersonen gehalten hatte, zu solch paranoiden Nervenbündeln werden
konnten. Aber vielleicht war das nur so, weil sie noch nie mit einem
zusammengelebt hatte, dachte sie.
Wenn Neil einmal früh genug zu Hause
war, daß sie gemeinsam zu Abend essen konnten, war er oft so müde, daß es
schwierig war, sich mit ihm zu unterhalten. Während sie dort saß und sich den
Mund fusselig redete, ihm von Anouska oder Guy erzählte, oder davon, was sie
zusammen erlebt hatten, schien er so gedankenverloren zu sein, daß sie sich manchmal
gefragt hatte, ob er es überhaupt bemerken würde, wenn sie in ihren
Tagesbericht beiläufig einen Satz einwerfen würde wie »und dann habe ich mit
dem Milchmann gebumst.«
Als er sie zögernd informiert hatte,
daß einer seiner Kollegen, der für die Parisfahrt in den Osterferien eingeteilt
war, ausfiel, und man ihn gebeten hatte, für ihn einzuspringen, hatte sie die
Idee mit so spontaner Begeisterung aufgenommen, daß er beleidigt ausgesehen
hatte. Das war genau das, was er brauchte, hatte sie ihm gesagt und ihn
gedrängt zuzusagen, als er unentschlossen schien. Ein Tapetenwechsel. Natürlich
würde sie allein mit dem Baby zurechtkommen. Wann tue ich das nicht? hätte sie
am liebsten gefragt.
Selbst wenn Ginger sie nicht übers
Wochenende zu sich nach Hause eingeladen hätte, wäre sie froh gewesen, daß er
wegfuhr. Sie wußte, daß es gut für ihn war, aber bis zu dem Zeitpunkt, als er
am Ende der Straße verschwand, war ihr nicht bewußt gewesen, wie sehr auch sie
sich auf einen Urlaub gefreut hatte. Sie seufzte erleichtert.
Als sie Anouskas Stirn kontrollierte,
schien sie heißer zu sein, aber sie atmete ruhig und gleichmäßig. Lia beschloß,
sie noch ein wenig schlafen zu lassen, während sie einen Koffer packte. Erst
als sie Annie aufweckte und anzog, entdeckte sie, daß ihr Hals an einer Seite
geschwollen und das Fieber gestiegen war. Sie gab ihr einen Löffel Calpol und
rief den Arzt an, dessen Bereitschaftsdienst gerade zu Ende war. Er kam auf dem
Heimweg schnell vorbei, untersuchte Anouska gründlich und versicherte Lia, daß
es immer noch der üble Virus war. Die Lymphdrüsen schwollen oft an, wenn sie
gegen Infektionen kämpften. Es war nur ein Anzeichen dafür, daß das Immunsystem
funktionierte, erklärte er. Anouska hatte eine ziemlich schlimme Infektion,
aber es würde ihr bald besser gehen. Lia brachte ihn zur Tür und fühlte sich
schuldig, weil sie ihn belästigt hatte. Aber als sie zurückging, um nach
Anouska in ihrem Bettchen zu sehen, sah sie so komisch aus, daß sie am liebsten
hinter ihm her auf die Straße gerannt wäre, um ihn zu bitten, sie noch einmal
zu untersuchen. Sie lief zum Fenster, aber sein Auto fuhr bereits weg. Sei
nicht so albern, sagte sie zu sich selbst.
Ginger lag wach im Bett, starrte an
die Decke und genoß einen Augenblick vollkommener Zufriedenheit. Sie hatte
keine Ahnung, wie spät es war, aber da aus Guys Zimmer kein einziger Laut
drang, mußte es noch früh sein. Normalerweise wachte er um kurz vor sieben auf.
Neben ihr schlief Charlie und blies
ihr zarte, rhythmische Atemzüge ins Ohr. Sein Haar war auf dem Kissen
ausgebreitet, seine Gesichtszüge sahen im Schlaf unschuldig aus. Sie wußte
nicht, was ihr am besten gefiel: mit ihm ins Bett zu gehen oder mit ihm
aufzuwachen. Das Aufwachen mit ihm war fast noch außergewöhnlicher, weil es immer
eine Überraschung für sie war, daß er noch da war.
Fang nicht an, es zu sehr zu mögen,
warnte sie eine winzige Stimme. Irgendwann wird er verschwunden sein. Er wird
dich mit einem Lippenstiftherzen auf dem Spiegel und ein paar schönen
Erinnerungen zurücklassen. Männer wie Charlie halten es nicht lange aus. Der
einzige Grund, weshalb er noch immer da ist, sagte die Stimme, ist, daß du es
schaffst, cool und relaxed zu bleiben. Im Moment ist er noch fasziniert, weil
er nicht ganz sicher ist, wie sehr du ihn magst, aber wenn du es ihn wissen
läßt, kannst du es abhaken.
Während des letzten Jahres hatte sie
Beziehungsängste vollkommen vergessen, die schreckliche Unsicherheit der ersten
paar Wochen und das große Dilemma, ob man einfach man selbst sein oder versuchen
sollte, die Frau zu sein, die man für
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