Keine große Affäre
sie einfach nicht wiedererkannt. Aber sie wußte, daß es nicht so war, denn
er hatte sie am nächsten Tag angerufen.
Nach dem anonymen Anruf hatte sie 1471
gewählt, mit der sie automatisch die Nummer des Anrufers angesagt bekam. Sie hatte
vermutet, wer es war, und die Nummer des Anrufers mit der Namensliste
verglichen, die Judith ihnen nach dem Geburtsvorbereitungskurs gegeben und die
Stephen an das Korkbrett in der Küche geheftet hatte.
Es hatte sie traurig gemacht, sich
vorzustellen, wie Neil den Hörer in seiner Hand anstarrte und sich fragte,
warum er angerufen hatte.
A telephone that rings but
who’s to answer?
Er konnte doch bestimmt nicht mehr
wütend sein oder verletzt. Nicht nach zwanzig Jahren...
»Wer war das?« fragte Neil, als sie
dem Auto nachsahen.
»Sie heißt Alison«, informierte Lia
ihn und steckte den Schlüssel in die Haustür. »Die Frau, die damals in diesem
Kurs zusammengeklappt ist.«
»Oh.« Er hielt inne, weil er nicht
wagte, irgend etwas zu sagen.
»Ich habe sie zufällig bei Waitrose
getroffen. Am Anfang war sie etwas frostig, aber dann haben wir uns ganz nett
unterhalten.« Lia lächelte, als sie daran dachte, wie eingeschüchtert sie durch
Alisons Unfreundlichkeit an der Kasse gewesen war.
Alison war älter, größer und hatte eine
Art Selbstsicherheit, die von ihrer Universitätsbildung herrührte. Sie hatte
einen hochkarätigen Job und dichtes, glänzendes, kurzgeschnittenes Haar in der
Farbe einer frisch geöffneten Kastanie. Sie war eine der Frauen, die zartes,
teures Parfüm auflegten, wenn sie auf einen Sprung zu Waitrose gingen, anstatt
es in der hübschen Glasflasche auf der Frisierkommode für eine festliche
Abendeinladung aufzuheben. Sie waren sehr verschieden. Doch Lia hatte sehr
schnell Risse unter der glänzenden Fassade entdeckt und eine Verletzlichkeit,
die sich ab und zu in Sprödigkeit oder Selbstironie manifestierte. Sie hatte
bemerkt, daß sie ihr sympathisch wurde, und sich gefragt, ob sie genug
Gemeinsamkeiten hatten, um Freundinnen zu werden.
Wenn man viel in der Welt umherreiste,
entwickelte man die Fähigkeit, sehr schnell intensive Freundschaften zu
schließen. Manchmal freundete man sich mit Leuten an, nur weil es im eigenen
Leben Lücken gab, die sie ausfüllen konnten, und manchmal war es andersherum.
In der Fremde traf man immer andere Ausländer, die sich treiben ließen, mit
denen man für einen oder zwei Monate eng befreundet war, bis sie oder man
selbst weiterzogen: Der verzweifelte schwule Tennislehrer mittleren Alters, der
mit einem den ganzen Katalog schöner Jungs durchging, die ihn ausgenutzt
hatten; der Barkeeper, der einen anschaute, aber nicht anfaßte, weil es gut
fürs Geschäft war, wenn man auf einem seiner hohen Hocker den Tag vertrödelte;
und andere junge Frauen, die wegen einer zerrütteten Ehe oder einem brutalen
Stiefvater aus England weggelaufen waren, oder einfach nur, weil sie dachten,
das Leben müßte mehr bieten als einen langweiligen Sekretärinnenjob, der zu
nichts führte und bei dem man sich auf nichts freuen konnte außer in jeder
Saison auf ein neues Kostüm aus dem Next-Katalog.
Seit ihrer Rückkehr nach London war es
für Lia schwieriger geworden, Leute kennenzulernen. Da waren ein paar Kollegen
aus Neils Schule, denen sie ab und zu beim Einkaufen in die Arme liefen, und
seine Kumpels aus dem Sportclub mit ihren Frauen und Freundinnen, aber sie
hatte niemanden getroffen, den sie sich als Vertrauten vorstellen konnte.
»Worüber?« fragte Neil und unterbrach
ihren Gedankengang.
Sie hatten so lange geschwiegen, daß
Lia nicht verstand, was er von ihr wollte, und ihn verwirrt ansah.
»Worüber habt ihr euch unterhalten?«
drängte er sie.
»Ach, über alles mögliche«, antwortete
sie und ging zur Küche durch. »Bist du mit Würstchen einverstanden?«
Alison wich mit einem Schlenker einem
Auto aus, das vor ihrem Haus aus einer Parklücke fuhr. Sie hatte es nicht
gesehen. Gott sei Dank kam niemand aus der Gegenrichtung, sonst hätte es einen
Unfall gegeben. Zitternd fuhr sie in die Einfahrt und stellte den Motor ab. Sie
saß minutenlang dort und hielt sich am Lenkrad fest, verzweifelt bemüht, die
wirren Schuldgefühle, die sie aus ihrem Schädel anzuschreien schienen, zum
Schweigen zu bringen. Sie versuchte sich durch langsames Atmen zu beruhigen und
ging im Kopf alle möglichen Szenarien durch.
Die erste Möglichkeit war, hinzugehen,
den Hörer zu nehmen und mit ihm zu sprechen. Hör zu, es ist
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