Keine große Affäre
Morgen, an dem Neil nach den
Sommerferien wieder in die Schule mußte, beobachtete Lia ihn dabei, wie er sein
Motorrad aufschloß und Helm und Handschuhe anzog. Er wandte sich um und winkte
ihnen zu. Sie hob Anouskas winziges Ärmchen und winkte damit zurück. Er setzte
sich auf die Maschine, sah nach rechts und links und war weg. Sie hörte das
Heulen des Motors noch lange, nachdem er verschwunden war, als sie an der Tür
stand und beunruhigt verwelkte Blumen aus dem Hängekorb zupfte. Es wehte ein
kühles Lüftchen. Der heiße Sommer ging langsam zu Ende.
Lia ging wieder hinein und legte das
Baby in die Tragetasche auf dem Küchentisch. Dann kochte sie sich eine Tasse
Kaffee und setzte sich. Unentschlossen stellte sie das Radio ein paarmal an,
dann wieder aus. Sie sagte sich, daß sie sich komisch fühlte, weil sie zum
ersten Mal allein war, seit das Baby geboren war. Nicht allein, aber die
einzige Erwachsene, mit der alleinigen Verantwortung für Anouska. Aber sie
wußte, das war es nicht. Neils Gesicht, als er aufgeschaut hatte und
weggefahren war, hatte sich ihr eingeprägt. Er hatte gelächelt, aber dabei
nicht an sie gedacht, sondern an die Straße, die vor ihm lag. Er war glücklich
gewesen, von ihnen fortzukommen.
Mrs. Gardners überstürzte Abreise
hatte einen schalen Nachgeschmack hinterlassen, eine gereizte Atmosphäre, die
noch lange herrschte, nachdem Pete gekommen war, um sie wieder nach Hause zu
bringen. Lia spürte, daß ihre Beziehung zu Neil ihre Balance seitdem nicht ganz
wiedergewonnen hatte. Er war sehr schweigsam, und wenn sie ihn fragte, ob ihn
etwas bedrückte, verneinte er, aber seine Augen sagten ja und daß sie es von
allein wissen müßte. Sie hatte von frischgebackenen Vätern gelesen, die sich
zurückgesetzt fühlten, besonders wenn die Mutter stillte, aber sie hätte
niemals geglaubt, daß Neil diesem Klischee entsprechen würde. Sie hatte ein
paarmal ungewollt die Art kritisiert, wie er mit Anouska umging, als er mit ihr
spielen wollte wie mit einem älteren Kleinkind, nicht wie mit einem
Neugeborenen. Da konnte man nicht lange fackeln. Sie sah, daß ihr Kind in
Gefahr war und in seinen starken, großen Händen strampelte, und sie schrie ihn
an, damit aufzuhören. Er hatte ihr das Baby zurückgegeben und war schweigend
aus dem Zimmer stolziert.
Lia war selbst überrascht gewesen, wie
schnell ihre Liebe zu Anouska jede Rücksicht auf seine Gefühle verdrängt hatte.
Es war, als hätte sie eine Art primitiven Instinkt, ihr Kind zu schützen. Ihr
winziges Töchterchen brauchte sie voll und ganz, und im Vergleich dazu erschien
Neil ihr manchmal wie ein großes Kind, das durchaus für sich selbst sorgen
konnte. Sie versuchte, auf seine Bedürfnisse einzugehen, aber als er nicht aus
seiner Schmollecke hervorkam, wurde sie ungeduldig. Sie hatte das Gefühl, mit
dem Baby schon genug um die Ohren zu haben, ohne auch noch ständig um ihn
herumscharwenzeln zu müssen.
Lia trank ihren Kaffee aus. Ein langer
Tag lag vor ihr, und sie hatte nichts zu tun und mußte sich über niemanden
Gedanken machen außer um ihr kleines, schlafendes Baby. Sie spürte, wie sich
ihre Schultern entspannten, als sie einen lange unterdrückten Seufzer ausstieß,
und dann, als ihr Blick auf die Telephonliste an der Kühlschranktür fiel, nahm
sie den Hörer in die Hand.
Von den Steinstufen des Eingangs aus
beobachtete Ginger, wie das letzte Kindermädchen, das sie an diesem Morgen
interviewt hatte, den Hügel herunterstapfte. Die untersetzte Frau trug
vernünftige Schuhe und einen beigen Regenmantel mit Gürtel. Sie sah nicht
zurück.
»Ich finde, sie hat einen guten
Eindruck gemacht«, sagte ihre Mutter, als Ginger wieder ins Wohnzimmer kam.
»Wirklich?« antwortete Ginger, die
durch das riesige, stümperhafte Loch in der Wand in die unpassend moderne Küche
schlenderte.
In der Wohnung hatte sich seit
Hermiones Tod nicht viel verändert, außer daß Ginger ein Bauunternehmen
beauftragt hatte, die Wand durchzubrechen, die das große Wohnzimmer von der winzigen,
altmodischen Küche und der angrenzenden Spülküche trennte. Ihre Mutter hatte
ihr das Geld für eine neue gegeben, die vor der Geburt des Kindes installiert
worden war, aber die Wände um Küchenelemente und Spüle herum waren immer noch
nicht gestrichen und ungekachelt. Der Durchbruch zwischen den beiden Zimmern
wurde von einem Pfeiler abgestützt, war jedoch noch nicht fertig. Ginger
schaltete den Wasserkessel an. »Ich fürchte, ich kann sie
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